TV-Tipp: "Stralsund: Der lange Schatten"

Fernseher auf gelbem Hintergrund
© Getty Images/iStockphoto/vicnt
2. September, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Stralsund: Der lange Schatten"
Trainer von Topclubs setzen gern auf eine stabile Achse: Torwart, Abwehrchef, zentrales Mittelfeld. Bei langlaufenden Reihen und Serien ist das nicht anders: Nebenfiguren dürfen kommen und gehen, doch das Zentrum sollunverändert bleiben. "Stralsund" verstößt schon seit Jahren gegen das ungeschriebene Gebot: Die 2009 gestartete ZDF-Krimireihe hat bereits acht Hauptfiguren verschlissen.

Trainer von Topclubs setzen gern auf eine stabile Achse: Torwart, Abwehrchef, zentrales Mittelfeld. Bei langlaufenden Reihen und Serien ist das nicht anders: Nebenfiguren dürfen kommen und gehen, doch das Zentrum sollunverändert bleiben. "Stralsund" verstößt schon seit Jahren gegen das ungeschriebene Gebot: Die 2009 gestartete ZDF-Krimireihe hat bereits acht Hauptfiguren verschlissen.

Der jüngste Wechsel betrifft Katharina Wackernagel: Hauptkommissarin Nina Petersen ist derart überstürzt abgereist, dass sich auf dem Schreibtisch immer noch ihre persönlichen Sachen befinden. Durch ihren "unerwarteten Abgang", wie es der Kollege Hidde (Alexander Held) formuliert, ist von der einstigen Startformation niemand mehr übrig. 

Hinter der Kamera gibt es ebenfalls eine rege Fluktuation, seit Martin Eigler und Sven S. Poser – die Reihenschöpfer haben "Stralsund" mit zehn Drehbüchern bis 2018 geprägt – nicht mehr beteiligt sind. Allerdings haben die Personalwechsel nie geschadet, weil die Rochaden regelmäßig für einen Neustart genutzt wurden.

Das gilt auch für Episode Nummer 21: Lars Henning (Buch und Regie) hat das Format mit Hilfe der Hauptfigur neu erfunden. Jule Zabeks Einführung orientiert sich an der bewährten Methode, eine Kommissarin mit einer bloß angedeuteten, aber offenbar belastenden Vorgeschichte zu versehen. Das Prädikat "unkonventionell" ist für TV-Polizistinnen mittlerweile ebenfalls abgenutzt.

Trotzdem ist die Rolle auch dank ihrer Interpretation durch Sophie Pfennigstorf interessant: Jule, eine junge Frau mit viel Schmuck am Ohr und Alkoholproblem, könnte auch auf der anderen Seite des Gesetzes stehen. Ein Vorfall in Rostock hat zur Versetzung geführt; ihre weitere Laufbahn hängt von einem psychiatrischen Gutachten ab. Weil sie gern auf eigene Faust ermittelt, bekommt sie prompt Ärger mit dem zum Revierleiter beförderten Hidde, der sich wie schon bei Petersen dennoch als väterlicher Freund erweist. 

Die Krimiebene zeichnet sich ebenfalls nur bedingt durch Originalität aus: Ein Mann hat zwei Schwestern entführt. Die eine hat ihren Fluchtversuch mit dem Leben bezahlt, die andere ist in einem Kellerloch eingesperrt. Was Henning und Kameramann Carol Burandt von Kameke aus diesem überschaubaren Szenario gemacht haben, ist jedoch bemerkenswert. Schon die düstere Bildgestaltung mit ihren überwiegend dunklen Farben ist sehenswert. Ein Großteil der Handlung spielt nachts, die Atmosphäre ist von gleich mehreren Unwettern geprägt. Die Musik (Oliver Kranz) bildet eine unheilverkündende Geräuschkulisse. Henning hat darauf geachtet, dass die Kamera den stark übergewichtigen Täter zunächst nur von hinten oder von der Seite zeigt, wobei das Gesicht stets von seinen strähnigen Haaren oder einer Kapuze verdeckt ist.

Auf diese Weise bleibt viel Raum für Fantasie: Der Typ muss ein Monster sein; bis es zum Aufeinandertreffen mit Jule kommt. Für diese Schlüsselszene, die exakt in der Mitte des Films beginnt, nimmt sich Henning zehn Minuten Zeit: Die Kommissarin führt ein scheinbar unverfängliches Gespräch mit einem Verdächtigen, dem natürlich nicht entgeht, dass die Besucherin irgendwas im Schilde führt; ihre Quittung ist ein angebrochenes Schlüsselbein. Immerhin hat sie das Versteck der verschleppten Frau entdeckt, aber als die Kollegen anrücken, ist der Entführer ausgeflogen.

Abgesehen vom dramatischen Finale hat Henning seinen dritten "Stralsund"-Beitrag nach den nicht minder sehenswerten Episoden "Blutlinien" (2020) und "Wilde Hunde" (2022) zwar auf hohem handwerklichem Niveau, aber überraschend bedächtig inszeniert. Beim Herzstück kommt der Film gar zum fesselnden Stillstand. Dennoch ist die Szene entscheidend: weil Jule ausgerechnet dem Mörder ihre verletzliche Seite offenbart; und weil der Täter nun einen Namen und ein Gesicht bekommt. Prompt wandelt sich die Abscheu vor diesem Mann, der wie die Personifizierung des Adjektivs "ungeschlacht" wirkt, in Mitgefühl. Das ist vor allem das Verdienst von Christoph Franken, der schon die Titelfigur in der "Nord bei Nordwest"-Folge "Der Andy von Nebenan" mit viel Feingefühl verkörpert hat. Natürlich ist "Der lange Schatten" in erster Linie ein Krimi, aber das Grundmotiv der Geschichte ist Einsamkeit. Jule haust schlaflos in einem Hotel, das vermutlich noch nie bessere Zeiten gesehen hat, ihr Zimmer ist völlig vermüllt; sie braucht ihren Job, um nicht vollends vor die Hunde zu gehen. Sophie Pfennigstorf verkörpert die verschiedenen Facetten ihrer Rolle derart glaubwürdig, dass die Zeit der Nebenrollen für sie vorbei sein dürfte.