Was wäre die Kunst ohne Unordnung und frühes Leid! Unzählige Filme und Bücher wären nie gedreht und geschrieben worden. Das Debütdrama "Mels Block", mit dem das ZDF heute seine diesjährige "Shooting Stars"-Reihe beendet, erzählt auch so eine Geschichte: Titelheldin Melanie ist 15 und wird von ihrer Clique fies gemobbt, weil sie Neurodermitis hat. Ausgerechnet eine ältere Nachbarin, bei der sie sich für eine Frechheit entschuldigen soll, bietet ihr eine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag.
Sie hat im Gegensatz zu Melanie oder ihrer Mutter nicht nur einen Computer, sondern auch einen Internetzugang. Dieser Teil der Handlung spielt vor knapp zwanzig Jahren. In der Gegenwart ist aus dem Mädchen von einst ein Topstar geworden: Mel, angemessen glamourös verkörpert von Caro Cult, gilt als Deutschlands jüngste Selfmade-Millionärin, wie zu Beginn des Films in einer Radiosendung verkündet wird. Ihren Reichtum verdankt die "Gaming-Legende" offenbar nicht zuletzt einem weltweit mit Erfolg vermarkteten Energy-Drink.
Aufgewachsen ist sie in einem Rostocker Plattenbau, und hierher kehrt sie nun zurück. Dass sie keineswegs, wie es im Radio heißt, "eine von uns" ist, verdeutlicht lautstark der röhrende Lamborghini, mit dem sie in Begleitung eines Personenschützers vorfährt. Es gibt ja die unterschiedlichsten Möglichkeiten, eine schwierige Kindheit zu verarbeiten. Viele würden den Ort, an dem sie ihre Jugendjahre verbracht haben, am liebsten in die Luft sprengen, um damit auch die düsteren Erinnerungen zu tilgen. Mel hat einen anderen Weg gewählt und kurzerhand den ganzen Wohnblock gekauft.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Was sie nun damit anfangen soll, weiß sie vermutlich selbst nicht genau, aber Drehbuchautorin Seraina Nyikos nutzt die Heimkehr ohnehin in erster Linie, um in immer längeren Rückblenden zu erzählen, was Mels jüngerem Alter Ego damals widerfahren ist. Der Auftakt der etwas unvermittelt beginnenden Zeitreise ist noch harmlos, zumindest in emotionaler Hinsicht, auch wenn es keine Kleinigkeit ist, die Melanies Clique vom Dach wirft, und selbstredend lässt sich die Tat aus heutiger Sicht als symbolischen Akt betrachten: Es handelt sich um einen Fernseher; allerdings wäre "Mels Block" ohne die Koproduktion mit der ZDF-Redaktion "Das kleine Fernsehspiel" vermutlich gar nicht zustande gekommen.
Zunächst bleibt der Film jedoch noch bei Mel, die dafür sorgen will, dass ihr neues Eigentum schöner, wohnlicher und weniger bedrohlich wird: mehr Farbe an die Fassade, größere Balkone und vor allem eine Beleuchtung, die keine dunklen Ecken mehr lässt. Fiete Schilling (Tom Keune), Kandidat für die anstehende Bürgermeisterwahl, möchte Mel zum Zugpferd seines Wahlkampfs machen, aber die prominente Heimkehrerin will sich nicht instrumentalisieren lassen. Als Jennifer (Livia Matthes) auftaucht, will sie ohnehin bloß noch weg: Die Begegnung mit der ehemals besten Freundin ruft mit Macht all’ das hervor, was sie doch eigentlich hinter sich lassen will, und nun wird’s auch in den Rückblenden hässlich; die Auseinandersetzungen gipfeln ausgerechnet an Melanies Geburtstag in einer Ohrfeige.
Regisseur Mark Sternkiker, in Rostock geboren, jedoch eine Jugendgeneration vor Melanie, wollte aber auch die junge Version seiner Hauptfigur auf keinen Fall als Opfer darstellen. Durch die regelmäßigen Besuche bei Renate (Barbara Schnitzler), die mehr und mehr zu einer großmütterlichen Beraterin wird, entwickelt die von Maja Enger ganz vorzüglich gespielte Melanie die Basis, um sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen: nichts wie raus "aus diesem Drecksloch".
Allerdings deutet der Film schon recht bald an, dass es dazu mehr bedurfte als nur eines starken Willens: Ihr Ziel mag Mel aus eigener Kraft erreicht haben, aber beim Start hatte sie dank Renates unfreiwilligem Dazutun einen erheblichen Vorsprung vor den anderen, die in der Tat, wie von der alten Frau prognostiziert, auch zwanzig Jahre später noch in dem Viertel leben. Zu den vielen Details, mit den denen die im Vergleich zu Sternkiker dank ihrer Mitarbeit an so unterschiedlichen Serien wie "German Genius" (Warner), "Ku’damm 63" (ZDF) und "Sankt Maik" (RTL) deutlich erfahrenere Autorin die Geschichte gewürzt hat, gehört unter anderem ein Ablösungsritual, mit dem Mel die Vergangenheit loswerden will.
Warum ausgerechnet ihr bis dahin stoischer Personenschützer (Dennis Scheuermann) den Plan durchkreuzt und wie sich am Ende doch noch eine unerwartete Gelegenheit ergibt, die Prozedur zu vollziehen, ist nur eine von vielen Überraschungen dieser für ein Debüt zudem sehr souverän inszenierten Tragikomödie. Der Film steht bereits in der ZDF-Mediathek.