Lob der protestantischen Faulheit?

gestresste Frau am Computer
Getty Images/iStockphoto/Jirapong Manustrong
"Work-life-balance" oder die 4-Tage Woche spiegeln die sich wandelnde Einstellung zur Arbeit. Doch der protestantische Arbeitsethos von Martin Luther ist weiterhin tief verankert: "Der Dienst der Arbeit ist die Erfüllung des göttlichen Heils selbst".
Generationenfrage Arbeitsethos
Lob der protestantischen Faulheit?
Sommerzeit, Urlaubszeit. Aber einfach mal nichts tun? Im Alltag mal faul zu sein, scheint den Protestanten immer noch schwerzufallen. Doch die Generation Z pocht auf ihre "work-life-balance" und die Babyboomer reden über die 4-Tage Woche.

Sommerzeit, Urlaubszeit. Aber geht vielleicht noch mehr? Auch im Alltag einfach mal nichts tun, faul sein, einfach so? Einer bestimmten Gruppe scheint das immer noch besonders schwerzufallen – den Protestanten. Denn seit mehr als 500 Jahren hat sich so etwas wie ein evangelisches Arbeitsethos entwickelt und bis heute erhalten. 

Das kennt etwa auch Kathrin Deisting, Pfarrerin der evangelischen Gemeinde Berlin-Siemensstadt. Arbeiten bedeute für viele ihrer Gemeindeglieder mehr als einfach nur Gelderwerb. "Bei der älteren Generation ist eine Identifikation mit der Firma Siemens da. Weil sie Opfer gebracht haben, wenn sie zum Beispiel in Brasilien Fabriken aufgebaut haben und dann die ganze Familie mitgezogen ist. Sie haben im Zweifel ihr erstes oder zweites Kind dort bekommen, um für die Firma da zu sein", sagt die Pfarrerin im Berliner Arbeiterbezirk.

Diese im Grunde ständige Verfügbarkeit um der Arbeit willen komme nicht von ungefähr, sondern sei so etwas wie eine protestantische DNA, meint die Pfarrerin: "Ich habe das Gefühl, dass es das Erbe aus den Jahrhunderten ist. Dass man als Christenmensch eine besondere Verantwortung in sich spürt, eben sehr viel zu leisten."

Alle Evangelischen seien, ob bewusst oder meist eher unbewusst, Kinder und Erben der Reformation. Das fange bei dem Arbeitsethos von Martin Luther an. Georg Lämmlin, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover, beschreibt es so: "Erstens: Die Arbeit wird als Beruf begründet, dass ich alles zum Dienst am Nächsten zu tun habe. Die zweite Ebene heißt, dass man sich mit der eigenen Arbeit selbst nähren soll. Daraus ergibt sich eine Arbeitspflicht. Wer nicht arbeitet, stiehlt dem Nächsten aber auch dem lieben Gott die Güter, die ihm für die Arbeit zur Verfügung gestellt sind und lässt es sich auf Kosten anderer gut gehen." 

Seit Martin Luther war Arbeit nicht mehr nur Mühsal im Schweiße des eigenen Angesichts, nicht mehr nur die immerwährende Bestrafung Gottes für den so genannten Sündenfall und die Verbannung aus dem Paradies. Mit dem Wittenberger Reformator wurde Arbeit fast schon zur Lust. Es entstanden neue Berufsbilder, zum Beispiel die Diakonissen. "Die Diakonie konnte sagen: Dieser Dienst braucht nicht mal eine besondere Anerkennung oder Entlohnung. Ich diene nicht um Geld oder um Anerkennung, sondern weil ich darf. Der Dienst der Arbeit ist die Erfüllung des göttlichen Heils selbst", erklärt Lämmlin weiter.

Der zweite große Reformator Johannes Calvin schuf in Genf sogar eine neue evangelische Gesellschaftsordnung, die von der Verpflichtung zur Askese geprägt war und dem Verbot, zu sehr die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen. "Damit wird indirekt eine starke Arbeitspflicht begründet, die protestantische Vorbehalte gegen eine innerweltliche Form des 'Sichgutgehenlassens'", sagt Lämmlin.

Sonntagsruhe streng einhalten

Arbeiten zum Wohle aller ohne Müßiggang oder Faulheit. Nur die Sonntagsruhe wurde streng eingehalten. Für den Soziologen Max Weber war dieses evangelische Arbeitsethos Grundlage des Kapitalismus. Denn nach Weber führte die Emsigkeit und Bescheidenheit der Evangelischen zu einer neuen Kapitalbildung. Die Gewinne wurden nicht verprasst, sondern konnten reinvestiert werden. Auch wenn Max Webers These heute mehr als 100 Jahre später relativiert wird, so hält Georg Lämmlin die protestantische Arbeitsethik immer noch für einen wichtigen gesellschaftlichen Faktor für die Entstehung heutiger Wirtschaftsformen.

Doch die Zeit der aufopferungswilligen Diakonissen ist längst vorbei und die Arbeitswelt hat sich verändert. Die junge Generation Z pocht auf eine ausgewogene work-life-balance. Selbst die Babyboomer würden lieber früher als später aus dem Berufsleben ausscheiden. Es wird sogar die 4-Tage-Woche diskutiert. Aber offenbar gibt es nach wie vor Protestanten, die damit Probleme haben. Georg Lämmlin: "Da ist vielleicht die Äußerung von Thomas de Maiziere rund um den Kirchentag programmatisch, dass er gesagt hat, diese 4-Tage-Woche, das sei eine deutlich nicht protestantische und nicht wirklichkeitsgemäße Vorstellung von unserem Leben. Die Unterbrechung der Woche durch den Sonntag sei ausreichend mit dem Samstag noch dazu."

Nicht-Arbeiten heißt nicht nichts tun

Aber es ist vielleicht eine Generationenfrage. Jürgen Funck ist 38 Jahre alt und Ingenieur. Er engagiert sich in der Gemeinde Siemensstadt. Für ihn ist Arbeit nicht mehr alles. "Dieses einfach immer Mehr, Schneller, Höher, Weiter erscheint mir und vielen in meiner Generation als etwas zu primitiv. Man will die Dinge schlauer machen. Oder man will Wege finden, mit weniger Einsatz ähnlich gute Ergebnisse zu erzielen", sagt der Ingenieur. Nicht-Arbeiten heißt aber nicht nichts tun. Für seine Generation sei eben Freizeit wichtiger, die sinnvoll gestaltet werde. "Leute, die im Beruf kürzertreten, tun das nicht, um einfach nur nichts zu tun, sondern um sich in der Zeit um Familie zu kümmern, Hobbys nachzugehen, sich gesellschaftlich zu engagieren", sagt das Gemeindeglied, das noch mehrere Jahrzehnte Erwerbsarbeit vor sich hat.

Kathrin Deisting ist Pfarrerin der evangelischen Gemeinde Berlin-Siemensstadt. Für sie ist Langeweile durchaus ein positiver Begriff. (Archivbild)

Die Arbeitswelt sei zudem stressiger geworden und die Menschen benötigten immer mehr Auszeiten, sagt Kathrin Deisting. Die Pfarrerin kann sich da schon vorstellen, sich vom einstigen evangelischen Arbeitsethos mehr zu verabschieden und dafür ein Loblied auf die Faulheit zu singen. Dafür muss sie als Protestantin allerdings auf einen Katholiken zurückgreifen. Auf einen Theologen und Mystiker, einen Zisterzienser aus vorreformatorischer Zeit."Bernhard von Clairvaux hat das Bild geprägt, dass der Mensch eine Schale sei. Erst wenn die Schale gefüllt ist, kann sie überfließen, erst dann kann sie weitergeben", sagt die Pfarrerin. Und weiter: "Auch der Begriff Langeweile ist positiv. Wenn ich Langeweile habe und ich kann einfach nur in die Luft starren und einfach nur sein, ist das gut. Das Problem ist, dass man es zu wenig macht."

Auch Georg Lämmlin vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover hofft auf ein Umdenken. Er plädiert für eine neue protestantische Nachhaltigkeitsethik: "Weil wir sehen, dass diese Arbeitsethik und das Leistungsethos zu einer Produktionssteigerungslogik gehört, die wir im Blick auf das Wirtschaftswachstum kritisch sehen. Eigentlich braucht unsere gesamte Gesellschaft eine andere Balance der Arbeit. Es braucht ein neues Nachdenken darüber, wie wir mit der Fülle und den Gaben unserer Welt als Schöpfung umgehen."

Also weniger Arbeiten um des eigenen Wohlergehens und um der Bewahrung, ja Rettung der Schöpfung willens? So könnte das neue protestantische Arbeitsethos alsbald lauten: Mehr Faulheit wagen!