TV-Tipp: "Tatort: Das Opfer"

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18. Dezember, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Das Opfer"
Ins Milieu eines kriminellen Clans führt der Berliner Tatort rund um Ermittler Robert Karow. Rückblenden führen auch in dessen Vergangenheit und setzen Stück für Stück ein Puzzle zusammen, das in einem Schlussknüller kulminiert.

Nach dem Tod seiner Kollegin ist Robert Karow erst mal auf sich allein gestellt; einerseits. Andererseits kann der Kommissar, von Mark Waschke ohnehin stets als einsamer Wolf verkörpert, jetzt ohne Rücksicht auf Verluste ermitteln: Seit 15 Jahren ist Staatsanwältin Sara Taghavi (Jasmin Tabatabai) hinter einem türkischstämmigen Clanchef her, der angeblich für jedes dritte Gewaltverbrechen in der Hauptstadt verantwortlich ist.

Seine eigenen Finger hat sich Mesut Günes (Sahin Eryilmaz) dabei nie schmutzig gemacht, aber nun hat er offenbar einen Mord höchstpersönlich begangen. Die Tatumstände lassen vermuten, dass ein Verräter hingerichtet worden ist. Auf der anscheinend achtlos in der Nähe des Tatorts weggeworfenen Waffe findet sich ein Fingerabdruck des Gangsters.

All’ das ist zwar Stoff für einen fesselnden Krimi, aber Erol Yesilkaya, seit Jahren ein Garant für ungewöhnliche Stoffe, hat die Handlung um eine erhebliche emotionale Fallhöhe erweitert. Als Karow zum Tatort in einem Waldstück kommt, sieht er zwischen den Bäumen einen Jugendlichen: Der Tote ist Maik Balthasar (Andres Pietschmann), Karows bester Freund in Teenagerjahren. Maik war zuletzt als verdeckter Ermittler eingesetzt; er sollte Günes im Auftrag von Taghavi zu Fall bringen. Die Staatsanwältin verbietet Karow zunächst ausdrücklich, sich einzumischen, also reicht der durch die Ermordung seiner Partnerin ohnehin psychisch angeschlagene Kommissar kurzerhand Sonderurlaub an und schlüpft quasi in die Rolle des Freundes.

In dessen Wohnung findet er einen handgeschriebenen Bericht. Die entscheidende Seite fehlt jedoch, und spätestens jetzt stellt Yesilkaya seine Klasse unter Beweis: Karow wird klar, dass Maik ihm eine Schnitzeljagd hinterlassen hat; er muss bloß der Spur folgen. Nach und nach setzt sich ein Puzzle zusammen, das schließlich zu einer völlig verblüffenden Lösung führt. Jetzt zeigt sich zudem, dass sich der Filmtitel neben seiner offenkundigen Bedeutung noch auf andere Weise interpretieren lässt; "Das Opfer" ist auch ein Liebesdrama.

Viele Drehbücher Yesilkayas sind von Sebastian Marka inszeniert worden. Gemeinsam haben die beiden für "Meta" (2018), ebenfalls ein "Tatort" aus Berlin, den Grimme-Preis bekommen, außerdem hat der Autor mit "Das Nest" (2019) und "Parasomnia" (2020) die Vorlagen für zwei der besten Sonntagskrimis aus Dresden geliefert. Regisseur von "Das Opfer" ist allerdings Stefan Schaller, auch er Grimme-preisgekrönt: für "Sabine" (2021), einen "Polizeiruf" aus Rostock.

Seine schnörkellose Umsetzung konzentriert sich voll und ganz auf die Hauptfigur. Karow ist in vielerlei Hinsicht ein Grenzgänger, aber diesmal lotet Waschke die Tiefe der Rolle womöglich noch stärker aus. Geschickt mit der Gegenwart verbrämte Rückblenden geben nach und nach preis, warum die Verbindung zwischen den Teenagern besonders innig war. Die beiden jungen Darsteller sind ebenfalls sehr überzeugend, wobei vor allem Laurids Schürmann (als Maik) in Erinnerung bleibt.

Clever war auch die Entscheidung, den Antagonisten Sahin Eryilmaz anzuvertrauen. Der Schauspieler wirkt oft in den Filmen von Lars Becker mit und weckt mit seinem gemütlichen Erscheinungsbild umgehend Sympathie. Tatsächlich stellt sich raus, das Günes zumindest in diesem Fall ein Getriebener ist.

Die weiteren Rollen sind gleichfalls treffend besetzt, unter anderem mit Kim Riedle als Sexarbeiterin, die das Milieu verlassen will und Karow das Leben rettet; ungeschoren kommt er dennoch nicht davon. Ganz ausgezeichnet ist auch Andreas Pietschmann. Er führt als Erzähler durch die Rückblenden, in denen es Maik gelingt, das Vertrauen von Günes zu gewinnen. Für die munteren Momente des Films sorgt Burak Yigit als Betreiber eines kombinierten Döner- und Tattoo-Geschäfts vis-a-vis vom Nachtclub des Clans; auch hier hat Maik entscheidende Hinweise für Karow deponiert.

Trotz des handwerklichen hohen Niveaus der Umsetzung und der formidablen Arbeit mit dem Ensemble: Es ist in erster Linie die Geschichte, die diesen sechzehnten "Tatort" mit Waschke zu einem besonderen Film macht. Wie sich das Puzzle nach und nach bis hin zum Schlussknüller zusammensetzt, ist große Klasse. Davon abgesehen ist "Das Opfer" auch ein fesselndes Psychogramm. Die Ausflüge in die Vergangenheit sind nicht nur für den aktuellen Fall wichtig, sie erklären auch die Figur Karow; umso besser, dass Dietrich Hollinderbäumer bereit war, für eine kurze Szene in die Rolle des Vaters zu schlüpfen. Karow senior hat seinem Sohn ein Mantra mit auf den Lebensweg gegeben, das diesen Film prägt: "Die Wahrheit ist das einzige, was zählt."