TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Abgrund"

Fernseher vor gelbem Hintergrund.
© Getty Images/iStockphoto/vicnt
11. Dezember, ARD, 20.15 Uhr:
TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Abgrund"
Eine Frau rennt in Panik durch einen nächtlichen Wald, schließlich verschwindet sie aus dem Bild. Ein Schrei ertönt, dann ist noch kurz ihre Hand zu sehen, die sich hilfesuchend an einen Baumstamm krallt. Der packende Prolog des "Polizeiruf"-Krimis weckt allerdings falsche Erwartungen.

Denn mit Ausnahme weniger Szenen hat Regisseur Stephan Rick den Film sehr entspannt inszeniert. Fortan lebt die Handlung vor allem von ihren Figuren.

Die Handlung trägt sich größtenteils in einem Dorf am Rande des Lausitzer Braunkohlegebiets zu. Um den Mörder der Frau zu finden, müssen sich Adam Raczek und sein Kollege Vincent Ross (Lucas Gregorowicz, André Kaczmarczyk) in ihrem zweiten gemeinsamen Fall nicht nur auf die Geschichte der Region, sondern auch auf die Dorfgemeinschaft eingelassen. 

Der Kern des Drehbuchs erinnert nicht nur wegen des Schauplatzes an die famose ARD-Serie "Lauchhammer – Tod in der Lausitz" (2022), auch wenn sich zunächst der Freund des Opfers als Hauptverdächtiger geradezu aufdrängt: Sie war Geologin und hat im Rahmen der Renaturierung des Tagebaus ein Gutachten über die Beschaffenheit des Ufers erstellt. Tom Grabowski (Patrick Kalupa) will dort eine "Paddelbude" errichten, wie die Mutter (Marie Anne Fliegel) vom Wirt dem Ermittlerduo verrät. Das Gutachten lässt seine Träume platzen; also ein Mord im Affekt? Als nach einer Geländerutschung das Skelett einer vor zehn Jahren verschwundenen und auf gleiche Weise zu Tode gekommenen Kellnerin auftaucht, konzentriert sich Raczek auf den Wirt des Dorfgasthofs, Andreas Franke (Peter René Lüdicke).

Der psychologisch geschulte Ross hat die passende Analyse zur Hand: Franke ist alleinstehend und sexuell frustriert, er lebt bei seiner Mutter und pflegt sein weibliches Personal mit versteckten Kameras zu beobachten. Für Raczek ist der Fall derart klar, dass er sich zu Handgreiflichkeiten hinreißen lässt, um ein Geständnis zu erpressen. 

Damit ist der Krimi beim zweiten Kernthema, denn das Drehbuch von Peter Dommaschk und Ralf Leuther nimmt einen Aspekt auf, der bereits den letzten "Polizeiruf" von der deutsch-polnischen Grenze geprägt hat ("Hildes Erbe"): Raczek ist am Ende. Seine chronische Erschöpfung hat sich zu einer ausgewachsenen Depression entwickelt, was die ohnehin nicht gerade von Sympathie geprägte Zusammenarbeit zwischen dem Ermittlerduo zusätzlich belastet. Raczek hat sich zwar daran gewöhnt, dass Ross geschminkt zum Dienst erscheint, aber er hat keine Lust, sich vom feinfühligen Kollegen in den Kopf gucken zu lassen. 

Zunächst gilt es jedoch, den Fall zu lösen. Wie bei "Lauchhammer" führt die Spur in die Vergangenheit, wenn auch nicht in die DDR, sondern nur bis ins Jahr 2001. Damals ist in einem früher von den Jungen Pionieren genutzten Ferienlager ein 16jähriges Mädchen gestorben; die Ermittler haben es offenbar mit einem Serienmörder zu tun. Clever spielt Rick, dessen letzter "Polizeiruf" für den RBB, "Tod einer Journalistin" (2019), eine ausgezeichnete Mischung aus Krimi und Polit-Thriller war, nun mit den Erwartungen des Publikums: Für Krimifans ist der Fall klar, als eine Frau sinngemäß zu ihrem Mann sagt, sie würde es merken, wenn er ein Triebtäter wäre; und diese Finte wird bis zum tragischen Ende nach einer Verfolgungsjagd an einem äußerst ungewöhnlich Schauplatz nicht die letzte Überraschung des Films bleiben. 

Bemerkenswert ist auch die sorgfältige Bildgestaltung (Felix Cramer); gerade bei den Innenaufnahmen in Kirche und Kneipe ist die Lichtarbeit sehr besonders. Ebenfalls sehenswert sind die Leistungen der Ensemblemitglieder. Trost findet Raczek allein bei der aus Breslau stammenden Kellnerin Eva (Anja Antonowicz), die seine Frage, warum es sie ausgerechnet an dieses Ende der Welt verschlagen habe, kryptisch beantwortet: "Überall ist es besser, wo wir nicht sind". Die Anspielung auf Michael Kliers preisgekröntes Spielfilmdebüt aus dem Jahr 1989 – auch darin ging es um Polen, die ihre Heimat verlassen – diente als Arbeitstitel ("Da, wo wir nicht sind") und ist zudem ein erster Hinweis auf den Schluss: Mit "Abgrund" verabschiedet sich Lucas Gregorowicz nach sieben Jahren und zwölf Filmen vom "Polizeiruf" des RBB.

Fritz Roth war viel länger dabei: Polizeihauptmeister "Wolle" Wolfgang Neumann ist einst gemeinsam mit seiner früheren Chefin Olga Lenski (Maria Simon) von Potsdam nach Swiecko umgezogen; der Schauspieler ist im Sommer 2022 gestorben. Wie es langfristig mit dem "Polizeiruf" weitergeht, ist noch offen; beim nächsten Fall wird Ross allein ermitteln.