TV-Tipp: "Flügel aus Beton"

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30. März, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Flügel aus Beton"
Gefahren, die im Internet lauern und bis zum Suizid führen können, behandelt das im Auftrag des WDR entstandene Drama auf eindrückliche Art. Manche der jugendlichen Hauptfiguren wirken ein wenig holzschnittartig.

Es ist aller Ehren wert, dass sich die ARD in ihren Mittwochsfilmen immer wieder mal mit den Abgründen des digitalen Zeitalters befasst, obwohl die jugendliche Zielgruppe dieser Themen längst in Richtung Netflix enteilt ist.

Beispielhaft für dieses Engagement war vor einigen Jahren "Das weiße Kaninchen" (2016, SWR), ein mit dem Grimme-Preis ausgezeichnetes clever konstruiertes Krimidrama über düstere Verführer. "Flügel aus Beton" behandelt einen ganz ähnlichen Aspekt. Damals endete die Verführung mit Missbrauch, hier mündet sie in den Tod: Eine unbekannte Person, die sich "König Minos" nennt, treibt lebensmüde junge Mädchen in den Suizid.

Lilly Bogenberger hat sich zu ihrem Drehbuch durch das Internetphänomen "Blue Whale Challenge" inspirieren lassen. Wer teilnehmen wollte, sollte sich einen Blauwahl in die Haut ritzen, musste anschließend diverse Aufgaben lösen und sich schließlich umbringen; das "Spiel" hat tatsächlich einige junge Menschen das Leben gekostet.

Hauptfigur des Films ist eine Referendarin. Als sich ein Mädchen aus ihrer Klasse in die Tiefe stürzt, geht Gabrielle (Victoire Laly in ihrer ersten Hauptrolle) der Sache nach und stößt schließlich auf das von "König Minos" initiierte Ikarus-Spiel. Sie gibt sich als ihre jüngere Schwester Ava aus und lässt sich zum Schein auf die Bedingungen ein.

Die Autorin hätte die Handlung auch als Krimi erzählen können, schließlich recherchiert die Referendarin wie eine Ermittlerin; der Polizei sind die Hände gebunden, weil beim Tod der Schülerin keinerlei Hinweise auf ein Fremdverschulden vorliegen. Tatsächlich ergänzt Regisseurin Lea Becker ihren ersten Langfilm gegen Ende gerade auch dank der packenden elektronischen Musik (Ina Meredi Arakelian) mehr und mehr um Thriller-Elemente, weil Gabrielle im Wettlauf mit "König Minos" ein weiteres Mädchen vor dem Suizid bewahren will. Seinen eigentlichen Reiz bezieht "Flügel aus Beton" jedoch aus der Gratwanderung der Lehrerin, die durchaus empfänglich für die düsteren Botschaften ihres morbiden Chat-Partners ist: Sie lässt sich von einem Kollegen mit Anti-Depressiva versorgen.

Die besondere Qualität von "Flügel aus Beton" liegt neben der authentischen Perspektive im sensiblen Umgang mit dem Thema. Dazu gehört auch ein entsprechender Warnhinweis zu Beginn. Suizid, ohnehin tabuisiert, ist die häufigste Todesursache bei Jugendlichen, weshalb es umso wichtiger ist, dass ein Film jede Romantisierung vermeidet, selbst wenn in diesem Zusammenhang das Neil-Young-Zitat aus dem Abschiedsbrief von Kurt Cobain nicht fehlen darf: "It’s better to burn out than to fade away" (sinngemäß: Es ist besser auszubrennen, als vergessen zu werden).

Angriffsflächen bietet das im Auftrag des WDR entstandene Drama allerdings beim Umgang mit den psychischen Problemen einiger Mädchen, weil Symptome wie Ritzen und Bulimie bloß schlaglicht- und schlagwortartig erwähnt, aber nicht vertieft werden.

Bogenberger, die bislang unter anderem für die ZDF-Reihe "Marie fängt Feuer" und die RTL-Serie "Der Lehrer" gearbeitet hat, ergänzt die zentrale Rolle der Deutschlehrerin um drei Teenager, die grundverschiedene Typen repräsentieren. Dass die Persönlichkeiten der Mädchen, alle um die 16, auf diese Weise etwas klischeehaft wirken, haben Buch und Regie offenbar in Kauf genommen.

Das gilt vor allem für die von Andrea Guo wie die Klassen-Bitch aus einem Highschool-Film verkörperte Steffi, vor der alle Angst haben, weil sie eine gnadenlose Mobberin ist. Ein beiläufiger Hinweis deutet an, dass auch sie in Wirklichkeit ein Opfer sein könnte, das eigenes Leid an andere weiterreicht - zum Beispiel an Laura, ein zeichnerisch sehr begabtes, aber äußerst schüchternes Mädchen, das unbedingt dazugehören möchte. Rika Schlegel hatte bis dahin keinerlei Kameraerfahrung, macht ihre Sache aber ausgezeichnet.

Lea Becker hat auch die anderen jungen Frauen gut geführt, doch Seyna Sylla hinterlässt als Gabrielles Schwester nicht zuletzt aufgrund ihrer Rolle den nachhaltigsten Eindruck: Ava ist der Gegenentwurf zur auch äußerlich immer düsterer werdenden Laura und die einzige Figur, die uneingeschränkte Lebensfreude ausstrahlt.

Respekt gebührt dem WDR zudem wegen des Ensembles: Die meisten Mitwirkenden dürften einem Großteil des Publikums nicht mal gesichtsbekannt sein. Auffällig ist zudem die betont diverse Besetzung, die auch nie thematisiert wird; normalerweise gibt es bei zentralen Figuren mit dunkler Hautfarbe irgendwann einen Hinweis darauf, dass die Eltern aus einem zentralafrikanischen Staat nach Deutschland geflohen sind. Gleichfalls kein Zufall wird die weibliche Dominanz sein: Nicht nur vor, auch hinter der Kamera von Dorothea Götz, deren Bildgestaltung nicht zuletzt durch die Lichtsetzung imponiert, sind die wichtigsten Positionen ausnahmslos weiblich.