Kurschus: Kirchliche Strukturen begünstigen den Missbrauch

Annette Kurschus
© epd-bild/Jens Schulze
Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus fordert eine konsequente Aufarbeitung des Missbrauchs in den Kirchen unter Beteiligung der Betroffenen.
Sexuelle Gewalt
Kurschus: Kirchliche Strukturen begünstigen den Missbrauch
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, sieht strukturelle Gründe für sexuellen Missbrauch in den Kirchen. Eine Aufarbeitung unter Beteiligung der Betroffenen sei unabdingbar. Nach den Enthüllungen eines juristischen Gutachtens in der Diözese München-Freising sagte der Vorsitzende der katholischen deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing: "Ich schäme mich für diese Kirche."

"Es gibt kirchliche Muster und Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen", sagte Annette Kurschus der Düsseldorfer "Rheinischen Post". "Das sind in der evangelischen Kirche andere als in der katholischen Kirche." Eine EKD-weite Studie eines unabhängigen Forschungsverbunds werde unter anderem hier einen Schwerpunkt haben und solche Muster und Strukturen identifizieren und offenlegen.

Durch das Unrecht sexualisierter Gewalt sei Vertrauen zerstört worden, betonte die Präses der westfälischen Landeskirche. "In der Kirche müssen Menschen davon ausgehen können, dass sie sich in einem geschützten und absolut vertrauenswürdigen Raum befinden." Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sei ein langer Prozess.

Dazu gehöre, Menschen, denen im Raum der Kirche Leid angetan worden sei, zuzuhören und sie zu unterstützen. Zudem müssten sie an der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen beteiligt werden. Die EKD lege Wert auf "größtmögliche Transparenz", um Vertrauen zurückzugewinnen, sagte die oberste Vertreterin des deutschen Protestantismus. "Außerdem betreiben wir auf sämtlichen Ebenen unserer Kirche intensive Prävention zur Verhinderung weiterer Unrechtstaten."

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. steht nach der Veröffentlichung eines juristischen Missbrauchsgutachtens für das katholische Erzbistum München und Freising weiterhin im Fokus der Kritik. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, äußerte sich erstmals zu den Ergebnissen des Gutachtens. "Ich verstehe alle, die mit der Kirche und uns Verantwortlichen hadern, und wenn ich mir die Fakten aus München vergegenwärtige, dann schäme ich mich für diese Kirche", sagte der Bischof von Limburg laut Mitteilung vom 22. Januar.

Auch die bayerische Landeskirche hat die Ergebnisse des Münchner Missbrauchsgutachtens mit "großer Betroffenheit" aufgenommen. "Es ist der größtmögliche innere Widerspruch, wenn wir als Kirche von der Liebe Gottes sprechen und zugleich im Raum der Kirche durch sexualisierte Gewalt Seelen zutiefst verletzt und ganze Biografien zerstört werden", teilte Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm mit.

Einseitiges Kirchenbild

"Auch in der evangelischen Kirche beschäftigen und beschämen uns Fälle von sexualisierter Gewalt", sagte Bedford-Strohm, der bis 2021 auch EKD-Ratsvorsitzender war. 166 Fälle seien bisher in Bayern bekannt. Als Kirche sei man aber nur glaubwürdig, wenn konkrete Schritte gegangen werden, "die sexualisierte Gewalt in der Kirche aufarbeiten und in Zukunft verhindern helfen", sagte Bedford-Strohm.

Der katholische Theologe und vatikanische Kinderschutz-Experte Hans Zollner hofft auf eine Entschuldigung Benedikts, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München war. Wenn es so sei, wie es die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl formuliert habe, hoffe er, dass sich Benedikt dann auch entschuldige, sagte Zollner der Bayerischen Rundfunk. Das sei auch im Sinne derer, die das Lebenswerk Benedikts nicht durch so eine Äußerung gefährdet sehen wollten.

Der "Welt am Sonntag" sagte Zollner, die Übernahme persönlicher Verantwortung sei offensichtlich sehr schwer. "Das hat mit der Überidentifizierung mit der Institution und einem einseitigen Kirchenbild zu tun: als ob alles nach außen hin makellos sein müsste."

Mangelnder Wille zur Aufarbeitung

Der gebürtige Regensburger Jesuitenpater Zollner ist unter anderem Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen. Er leitet das "Safeguarding Institut" an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

Der Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, sagte dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland", offenbar wolle Benedikt nicht wissen, was in seiner eigenen Kirche passiert sei. Die Ignoranz wiege umso schwerer, weil Benedikt als Präfekt der Glaubenskongregation ab 1982 zwei Jahrzehnte lang für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen für die Weltkirche zuständig gewesen sei. Wenn er jetzt für sich neu definiere, was überhaupt sexueller Missbrauch von Klerikern bedeute, "dann lässt das sehr tief auf den mangelnden Aufarbeitungswillen der Kirche blicken".

Der Kirchenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, will bessere Voraussetzungen für eine staatliche Aufarbeitung schaffen. Die unabhängige Aufarbeitungskommission beim Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs solle aufgewertet und besser finanziert werden, sagte er dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland". Die Politik sei stärker gefordert, um "das Thema weiter aus der Tabuzone herauszuholen und alles Menschenmögliche dafür zu tun, Taten zu verhindern".

Benedikt XVI. revidiert Aussage

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat seine Stellungnahme zum Münchner Missbrauchsgutachten inzwischen in einem entscheidenden Punkt revidiert. Entgegen seiner bisherigen Darstellung habe er doch an einer Ordinariatssitzung im Erzbistum München und Freising am 15. Januar 1980 teilgenommen, heißt es in einer am 24. Januar vom Vatikan verbreiteten Erklärung von Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein. In der Sitzung ging es laut dem am Donnerstag präsentierten Gutachten um die Übernahme eines Priesters aus dem Erzbistum Essen, der als Missbrauchstäter aufgefallen war.

Die falsche Aussage Benedikts sei nicht aus böser Absicht geschehen, sondern war Folge eines "Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme", fügte Gänswein hinzu. Wie es dazu kam, werde er in einer noch ausstehenden Stellungnahme erklären.