TV-Tipp: "Tunnel der Freiheit"

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TV-Tipp: "Tunnel der Freiheit"
28. Juli, ARD, 23.00 Uhr
Die Geschichte der abenteuerlichen Flucht aus der DDR durch einen selbst gegrabenen Tunnel ist zur Legende geworden. 60 Jahre nach dem Mauerbau macht der Film die Ereignisse noch einmal lebendig - spannend wie ein Spionagethriller.

Es gibt viele Geschichten über Menschen, die unter aberwitzigen Umständen oder auf höchst abenteuerliche Weise aus der DDR geflohen sind. Mit Ausnahme der Flucht in einem Heißluftballon (1979) war wohl keine so aufsehenerregend wie diese: Im Sommer 1962 haben einige wagemutige Männer vier Monate lang vom Keller einer leerstehenden Fabrik aus einen 135 Meter langen Tunnel unter der Mauer hindurch gegraben, um Freunde und Familie rauszuholen. Marcus Vetter, mit gut zwei Dutzend Film- und Fernsehpreisen dekoriert, darunter allein drei Grimme-Preise, hat den italienischen Initiatoren der Aktion, Domenico Sesta und Luigi Spina, schon 1999 mit seinem Film "Der Tunnel" ein Denkmal gesetzt. Die beiden studierten gemeinsam mit Peter Schmidt an der Westberliner Hochschule der Künste. Als am 13. August 1961 die Sektorengrenze abgeriegelt wurde, war das Studium für den Ostberliner Schmidt von einem Tag auf den anderen beendet. Die Freunde durften ihn nach wie vor besuchen, aber er nicht mehr in den Westen. Also tüftelten "Mimmo" und "Gigi" das "Unternehmen Reisebüro" aus. Unterstützung bekamen sie durch angehende Ingenieure von der Technischen Universität.

Anlässlich der Erinnerung an den Mauerbau vor sechzig Jahren erzählt Vetter die Geschichte im Auftrag von Arte und SWR nun noch einmal. Natürlich ist "Tunnel der Freiheit" in gewisser Weise ein Remake, zumal der Autor und Regisseur – er hat zuletzt unter anderem "Das Versprechen" über den vermeintlichen Doppelmörder Jens Söring gedreht – einen großen Teil des einstigen Materials wiederverwertet, aber der heutige Blick lässt das Unternehmen noch mal spektakulärer erscheinen. Einige der damals Beteiligten sind mittlerweile weit über achtzig, andere wie Sesta und Spina leben längst nicht mehr; Vetter blieb daher gar nichts anderes übrig, als viele Interviewausschnitte aus seinem Frühwerk zu verwenden, zumal gerade die beiden Italiener für den Film unverzichtbar sind. Zweite zentrale Figur neben Schmidt ist der bei einem Fluchtversuch Ende 1961 von seiner Frau getrennte Claus Stürmer, den die anderen bis zum letzten Tag für einen Spitzel hielten. In einer der bewegendsten Szenen des Films tauscht sich das alte Ehepaar über den blinden Fleck ihrer Beziehung aus: Ein Gespräch über das Trauma der missglückten Flucht hatten sie bis dahin stets vermieden; endlich können sie ein sechzig Jahre altes Missverständnis aus der Welt räumen. 

Dank der Fortschritte in der Filmtechnik kommt das Originalmaterial nun viel stärker zur Geltung: Als den Tunnelbauern das Geld ausging, haben sie ihre Story an den amerikanischen TV-Sender NBC verkauft. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Buddelei daher von einem Berliner Kamerateam dokumentiert. Das entsprechende 16mm-Material hat Vetter nun im Rahmen eines komplexen Prozesses in hochaufgelöste Bilder umgewandelt, sodass diese Aufnahmen viel besser zur Geltung kommen. Die Ende der Neunzigerjahre geführten Interviews sind ebenfalls bearbeitet worden. Zu einem fesselnden Zeitdokument wird der Film, der komplett ohne Kommentar auskommt, durch seine Einbettung in die Historie. Er beginnt mit dem berühmten Berlinbesuch John F. Kennedys im Juni 1963 und seiner legendären Rede vor 1,5 Millionen Menschen am Rathaus Schöneberg, dann folgt gewissermaßen eine lange Rückblende.

Dokumentarische Bilder erzählen von der "Abstimmung mit den Füßen", wie es damals hieß, als die Ostdeutschen ihre Heimat täglich tausendfach hinter sich ließen. Es folgen Aufnahmen, die Geschichte machten: der Soldat, der über den Stacheldraht springt; Maurer, die die Fenster im Erdgeschoss verschließen; Menschen, die tollkühn aus einem höheren Stockwerk in die Freiheit springen. Der "Cold Song" von Klaus Nomi verleiht diesen Szenen eine zusätzliche Intensität. Die um eigens entstandene Kompositionen von Christian Henschl und Jens Huerkamp ergänzte Musikauswahl ist ohnehin sehr gelungen. Herzstück aber sind neben den Ausschnitten aus dem NBC-Film die Gespräche mit den Beteiligten. Gerade der charismatische Hasso Herschel, der sich den Italienern anschloss, um seine Freundin aus der DDR zu holen, ist nicht zuletzt dank seines auch im hohen Alter noch besonderen Humors ein vortrefflicher Erzähler.

Roland Suso Richter hat aus den Erlebnissen der Männer und Frauen vor gut zwanzig Jahren für Sat.1 einen packenden Zweiteiler gedreht ("Der Tunnel"), der unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden ist. Die eingangs erwähnte Ballonflucht ist sogar zweimal verfilmt worden, einmal durch Disney ("Mit dem Wind nach Westen", 1982), zuletzt durch Michael Bully Herbig ("Ballon", 2018). "Tunnel der Freiheit" kann sich, was die Spannung angeht, problemlos mit den Großproduktionen messen, zumal der Film zwischendurch auch Züge eines Spionagethrillers trägt. 29 Menschen ist mit Hilfe des Tunnels im September 1962 die Flucht in die Freiheit geglückt.