TV-Tipp: "Atlas"

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TV-Tipp: "Atlas"
Dienstag, 8. Juni, ARD, 22.50 Uhr
"Atlas" wird bestimmt durch seinen Hauptdarsteller: Walter (Rainer Bock) ist Möbelpacker. Er arbeitet für ein Frankfurter Speditionsunternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, Wohnungen auszuräumen, deren Mieter nicht freiwillig ausziehen wollen. Das läuft nicht immer friedlich ab, aber Walter macht bloß seinen Job.

Der Mann sieht nicht aus wie jemand, der früher Gewichtheber war und sogar Trophäen gewonnen hat, aber der Eindruck täuscht: Zur Not hievt sich Walter Scholl einen Kleiderschrank ganz allein aufs Kreuz. Walter kommt gut mit den Kollegen aus, aber Freunde hat er nicht; die einzige Freizeitbeschäftigung, die ihm der Film gönnt, ist das morgendliche Stemmen einer Hantel und ein gelegentliches Bier mit dem allenfalls halbsympathischen Gerichtsvollzieher Alfred Hope (Thorsten Merten), der die Zwangsräumungen organisiert.

Bewegung kommt erst in Walters Leben, als er eines Tages in einem der betroffenen Mieter seinen Sohn erkennt, den er seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hat: Jan Haller (Albrecht Schuch) und seine Frau Julia (Nina Gummich) wollen sich nicht aus ihrer Wohnung vertreiben lassen, aber die beiden haben keine Ahnung, worauf sie sich da einlassen: Hinter den Schikanen steckt ein arabischer Clan, mit dem nicht zu spaßen ist, und so wird Walter unerkannt zum Schutzengel der Familie.

Rainer Bock ist einer jener Schauspieler, deren Gesicht den meisten Zuschauer:innen bekannt sein dürfte, weil er in Dutzenden Filmen mitgewirkt hat. Er verkörpert oft Männer, bei denen lange nicht klar ist, auf welcher Seite sie stehen, und macht das grundsätzlich ausgezeichnet; mit wenig Aufwand, aber stets großer Wirkung. Trotzdem ist ihm in seiner langen Karriere erst eine Ehrung widerfahren, und das war für diesen Film (Darstellerpreis des Günter-Rohrbach-Filmpreises, 2019). Auch wenn ihm die passende Statur fehlen mag: Die Rolle ist wie geschaffen für ihn, denn sie lebt in erster Linie von seiner Ausstrahlung; Walter wortkarg zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung.

Ähnlich sparsam wie die allerdings markante Musik (Enis Rotthoff) ist der narrative Stil, den Regisseur David Nawrath und sein Koautor Paul Salisbury gewählt haben: Auf einen Krankenhausbesuch folgt der Schnitt auf eine Friedhofszene; prägnanter kann man kaum erzählen. Ähnlich lakonisch ist der Schluss, als das Autorenduo den Epilog im Grunde auf ein Wort reduziert.

Bocks Verkörperung der Hauptrolle ist auch körpersprachlich interessant: Walters Gang signalisiert gleichzeitig große Kraft wie auch große Müdigkeit; mitunter scheinen ihm die Augen mitten im Gespräch zuzufallen. Als er die Familie seines Sohnes besucht, ist sein Unbehagen fast körperlich spürbar. Bei der Arbeit trägt er eine Art Geschirr, das sein Kreuz entlasten soll; aber es wirkt auch wie ein Exoskelett, das ihn aufrecht hält.

Nawrath, der im Anschluss an sein Debüt die eher unauffällige dritte "Blind ermittelt"-Episode "Der Feuerteufel von Wien" (2020) gedreht hat, wollte sein Erstlingswerk bewusst schnörkellos inszenieren; deshalb sind die Bilder betont kühl und wenig anheimelnd. Die Kamera (Tobias von dem Borne) beschränkt sich in einigen Szenen darauf, in Bocks Gesicht zu schauen, sodass sich die Geschehnisse im Hintergrund allein auf der Tonspur ereignen; etwa, wenn Moussa (Roman Kanonik), ein impulsiver neuer Kollege mit arabischen Wurzeln, dem fremdenfeindlichen Gerichtsvollzieher auf dem Klo eine Abreibung verpasst.

Walter, der sogar im eigenen Leben bloß wie eine Art teilnehmender Beobachter wirkt, hält sich aus solchen Auseinandersetzungen grundsätzlich raus. Später sagt er zu Hope: "Jeder lädt sich seine Last selber auf, jeder muss sie auch allein tragen."

Neben der formidablen Leistung Bocks, der mit dieser Rolle für den Deutschen Filmpreis nominiert war, lebt der Film natürlich auch von der Frage, warum sich Walter seinem Sohn nicht zu erkennen gibt; selbst dann nicht, als Jan glaubt, er stecke mit dem Araber-Clan unter einer Decke. Das Drehbuch gibt bloß eine Andeutung preis: Nach einem Handgemenge zwischen Moussa und Jan soll Walter für seinen Kollegen aussagen, aber mit der Polizei will er nichts zu tun haben. Er willigt erst ein, als ihm sein Chef (Uwe Preuss) versichert, niemand suche mehr nach ihm.

So erklärt sich nicht nur die imaginäre Last, die Walter auf seinen Schultern trägt, sondern auch der Filmtitel: In der griechischen Mythologie muss der Titan Atlas nach einer Revolte gegen die Olympier zur Strafe das Himmelsgewölbe stützen. Titanengleich legt sich der Möbelpacker schließlich mit dem Clan an, zu dem auch Moussa gehört; aber diesen Krieg kann er nur verlieren.