TV-Tipp: "Wilsberg: Aus heiterem Himmel"

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TV-Tipp: "Wilsberg: Aus heiterem Himmel"
Samstag, 22. Mai, ZDF, 20.15 Uhr
Krimifans wissen: Wenn ein Film zwei Geschichten erzählt, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, stellt sich schließlich unweigerlich raus, dass sie zwei Seiten derselben Medaille sind. Das geht auch anders, mag sich Mario Sixtus gedacht haben: Sein zweites Drehbuch "Aus heiterem Himmel" für den ZDF-Samstagsklassiker "Wilsberg" ist der Beweis, dass eine Medaille fünf Seiten haben kann.

Wie der Film diese verschiedenen Handlungsstränge am Ende plausibel zusammenführt, zeugt von großer Kunstfertigkeit, zumal anfangs eingestreute biografische Nebensächlichkeiten unversehens entscheidende Bedeutung bekommen. Regisseur Dominic Müller hat mit dem Autor bereits bei der nicht minder sehenswerten Episode "Ins Gesicht geschrieben" (2019) kooperiert. Damals ging es um eine App, die dank Gesichtserkennung im Nu alles zusammenträgt, was sich an digital verfügbaren Informationen über eine bestimmte Person finden lässt. Im 72. "Wilsberg" Film, "Aus heiterem Himmel", spielt die Digitalisierung ebenfalls eine wichtige Rolle; aber im Vordergrund stehen miese Machenschaften ganz anderer Art.

Drei Familien haben für ihre Läden einst einen gemeinsamen Mietvertrag unterschrieben. Dieses Papier garantiert ihnen zum Verdruss des heutigen Besitzers Sicherheit auf Lebenszeit. Während Wilsberg (Leonard Lansink) gemeinsam mit Anna Springer (Rita Russek) in einer typischen Loriot-Szene bei Schneiderin Tahmina Ahmadi (Anastasia Papadopoulou) weilt – die Kommissarin hat ihn zum Besuch des Polizeiballs überredet –, fährt Steuerfahnder Ekki (Oliver Korittke) beim Nachbarladen vor: Musikalienhändler Antonov (Christian Kuchenbuch) wird in einer anonymen Anzeige der Geldwäsche bezichtigt.

Die Schneiderin bittet den Detektiv um Hilfe, damit die Schikanen des Vermieters endlich enden. Während sie in Wilsbergs Beisein mit dem Besitzer (Dirk Martens) des dritten Geschäfts ein Video-Telefonat führt, wird der Mann vor ihren Augen in der Nähe des Fernmeldeturms erschossen. Die Polizei geht von einem Scharfschützen aus, weil die Bilder einer Wetter-Cam das Opfer allein auf weiter Flur zeigen.

Hauptverdächtiger ist ausgerechnet der Besitzer des Musikgeschäfts: Antonov hat seinen Freund und Nachbarn offenbar per SMS zum Treffen vor die Tore Münsters bestellt. Während Wilsberg nun einen Mörder sucht und gleichzeitig verhindern will, dass sich eine Immobilieninvestorin (Christine Sommer) die Parzelle mit den drei Läden unter den Nagel reißt, lässt sich Ekki auf ein Blind Dante mit einer ebenso attraktiven wie rätselhaften Frau (Natalia Rudziewicz) ein, die ihn ganz wuschig macht; am nächsten Morgen wacht er im Park auf und kann sich an nichts mehr erinnern.

Schon in Sixtus’ erstem "Wilsberg"-Drehbuch spielte Overbeck (Roland Jankowsky) eine besondere Rolle. Springers Mitarbeiter ist stets Protagonist, wenn es um Aspekte der Digitalisierung geht. Diesmal ist der ehrgeizige Polizist, dessen Höhenflüge stets mit einer Bruchlandung enden, einer "mental-viralen Revolution" auf der Spur: Der Kriminaloberkommissar hat eine App entdeckt, mit deren Hilfe Drogenhandel ohne jeden zwischenmenschlichen Kontakt abläuft. Nun nervt er seine Umgebung, allen voran den überforderten Oberwachtmeister Lüdke (Andreas Merker), mit Vorträgen über das Ende des binären Systems.

Die entsprechenden Dialoge haben dem Autor garantiert viel Freude bereitet; angesichts der globalen Dimensionen dieses Falls hat Overbeck selbstverständlich keine Zeit, um auch noch "Eierdiebe" zu jagen. Seine Suche nach dem vermeintlichen Drogenkartell mündet schließlich auf ebenso verblüffende Weise in den Hauptstrang wie Eckis Flirt mit der schönen Unbekannten. Außerdem geht es noch um eine vor langer Zeit verschwundene Geliebte, ein tragisches Familienschicksal sowie um einen Mann (Marek Harloff), der vor einigen Jahren komplett aus der Bahn geworfen worden ist.

Wie es Müller gelingt, mit diesen verschiedenen Ebenen zu jonglieren, ohne seinen zwölften "Wilsberg"-Beitrag je sprunghaft wirken zu lassen, ist sehr beeindruckend. Gleiches gilt für die Arbeit mit dem Ensemble, zumal sich Sixtus für die weiteren Mitwirkenden ebenfalls vergnügliche Verbalscharmützel ausgedacht hat. Wilsberg legt sich mehrfach mit der zu beißendem Sarkasmus neigenden Investorin an, aber auch in dieser Hinsicht sorgt der Film für Überraschungen: Feinde werden zu Freunden, Mitstreiter entpuppen sich als Verräter.

Ein weiterer Beleg für den Ideenreichtum des Drehbuchs sind die wortlos witzigen Szenen, wenn sich beispielsweise mehrere Beteiligte nacheinander dasselbe Fahrrad schnappen. Außerdem hat Sixtus einen kleinen Coup eingebaut, der an George Roy Hills Klassiker "Der Clou" mit Paul Newman und Robert Redford erinnert. Opfer dieser Scharade ist ein Immobilienhändler, auf dessen Schreibtisch tatsächlich ein Hai steht.

Und als wäre all’ das nicht genug, gibt es noch die kleinen Auftritte einer eifrigen Kriminaltechnikerin (Sarah Alles), die alles Mögliche probiert, um Overbeck zu imponieren; aber der ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Welt vor der Umkonfigurierung zu bewahren. Es ist eine ausgesprochen gute Nachricht, dass die Kollegin ihre Bemühungen fortsetzen darf; ganz im Gegensatz zu Ina Paule Klink, die zwar immer noch im Vorspann aufgeführt wird, aber die Reihe nach der letzten Episode verlassen hat.