"Die Kirche dient dem Wohl der Menschen, keinem System"

Landesbischof Ralf Meister predigt
©epd-bild/Jens Schulze
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister kritisiert "die fahrlässige Verwendung des Begriffs "Systemrelevanz", da es darauf zielt, welche Institutionen und welche Aufgaben für eine friedliche, solidarische und sichere Gesellschaft notwendig sind".
"Die Kirche dient dem Wohl der Menschen, keinem System"
Drei Fragen an Landesbischof Ralf Meister zur Unwort-Debatte
Das Wort "Systemrelevanz" wäre für den hannoverschen Landesbischof Ralf Meister geeignet, zum Unwort des Jahres gekürt zu werden. Der evangelische Theologe hatte bei einer Tagung der Internationalen Martin-Luther-Stiftung am Mittwoch in Berlin diesen Gedanken geäußert. Gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert Meister seinen Vorschlag.

"Systemrelevant" als Unwort. Herr Bischof, Sie sagen, die Kirche dürfe nicht zuerst "systemrelevant" sein wollen, sonst laufe geistlich etwas schief. Sollte die Kirche diesen Anspruch nicht haben in einer Zeit, in der gesellschaftlich und wirtschaftlich vieles ins Wanken gerät?

Ralf Meister: Ich kritisiere die fahrlässige Verwendung des Begriffs. "Systemrelevanz" zielt darauf, welche Institutionen und welche Aufgaben für eine friedliche, solidarische und sichere Gesellschaft notwendig sind. Wir reden dann über die Gesellschaftsordnung. Diese aber kann in einer Demokratie niemals verordnet, sondern muss gemeinsam erarbeitet werden. In einem gesellschaftlichen Prozess müssen alle miteinander klären, was in einer so extremen Situation, wie wir sie während der Corona-Pandemie erleben, wirklich wichtig ist.

Viele Kirchengemeinden haben sich während der Hochphase der Corona-Krise intensiv bemüht, für die Menschen da zu sein. Hat Kirche vor Ort damit nicht sehr viel Systemrelevanz bewiesen?

Meister: Die Kirche dient dem Wohl der Menschen. Sie lebt aus der Gnade Gottes und handelt aus der Freiheit in Christus. Aber sie dient keinem System. Deshalb verstehe ich den Vorwurf nicht, die Kirchen hätten sich stärker darum bemühen müssen, offiziell als "systemrelevant" eingestuft zu werden. Dass eine leibhaftige Begleitung beispielsweise in Krankenhäusern und Pflegeheimen so schwierig wurde, schmerzt uns bis heute. Gewiss müssen wir aus den vergangenen Monaten lernen und besonders sensibel sein für die Kranken, die Sterbenden, für alte Menschen und Menschen mit Behinderungen, Menschen, die unter der physikalischen Distanz leiden, aber ebenso für Kinder und Jugendliche.

Was wäre Ihr persönliches Wort des Jahres?

Meister: Vergebung. Eine Gesellschaft erlebt eine kaum geahnte Ungewissheit, wird auf die eigene Endlichkeit geworfen und verliert gewohnte Gesten der Nähe, des Trostes und der Vertrautheit. Nur in der Gemeinschaft, nur in der Solidarität, die auch immer das Wohl des Nächsten im Blick hat, versuchen wir diese Situation zu bewältigen. Dabei machen wir Fehler, wir bleiben hinter den Ansprüchen zurück, wir übersehen Andere und vergessen, was nötig ist. Wir werden diese Situation überstehen und werden aus der Vergebung leben, die wir uns einander zusagen und die uns Gott gewährt.