Beten mit den Füßen

Pilger unterwegs allein auf Wiese
©Getty Images/eclipse_images
Viele der pilgernden Menschen seien auf der Suche nach einer spirituellen Erfahrung, sagt der Pilgerbeauftragte der württembergischen Landeskirche, Jürgen Rist. "Die Kirche muss zu diesen Menschen kommen und darf nicht warten, bis sie sonntags um 9.30 Uhr in die Kirche gehen."
Beten mit den Füßen
Unterwegs mit dem Pilgerexperten Jürgen Rist
Pilgern ist nicht nur Wandern, es ist ein Lebensstil, sagt der Pilgerbeauftragte der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Jürgen Rist bildet Pilgerbegleiter aus - und führt selbst ins Pilgern ein.
16.10.2020
epd
Judith Kubitscheck

Stille. Nichts ist zu hören - außer das Knirschen von neun Paar Schuhen auf dem Kies. Minutenlang wandern die "Schnupperpilger" aus der Kirchengemeinde in Stammheim-Holzbronn (Landkreis Calw) still nebeneinander her - bis Jürgen Rist das Schweigen unterbricht. Der Pilgerbeauftragte der württembergischen Landeskirche bietet den Pilgerschnuppertag an: "Das schweigende Gehen soll helfen, bei sich selbst anzukommen", erklärt er.

Pilgerbeauftragter Jürgen Rist will künftig auch Touren mit Lamas, für Trauernde und für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind anbieten.

Das Pilgern boomt seit Jahren, beobachtet Rist. Vor allem an Lebensübergängen, wie beispielsweise in der Lebensmitte oder zu Beginn des Ruhestandes, brechen viele auf, um Klarheit zu gewinnen oder ihr Leben zu reflektieren. Auch sportliche, religiöse, spirituelle und kulturelle Motive spielen Umfragen zufolge eine Rolle.

Gekonnt begleitet

Das Pilgerbüro im spanischen Santiago de Compostela bestätigt die Attraktivität des Pilgerns: 2019 kamen demnach insgesamt rund 347.578 Jakobswegpilger in Santiago an - in den letzten Jahren stieg die Zahl jährlich. Viele dieser Menschen seien auf der Suche nach einer spirituellen Erfahrung, sagt Rist. "Die Kirche muss zu diesen Menschen kommen und darf nicht warten, bis sie sonntags um 9.30 Uhr in die Kirche kommen."

Genau aus diesem Grund bildet der passionierte Pilger seit 2017 für die Landeskirchen in Baden-Württemberg Pilgerbegleiter aus. In dieser zwölftägigen, ökumenischen Qualifizierung hat er bisher rund 60 Frauen und Männer geschult, die das Pilgern in Gruppen anbieten. Unterwegs auf einem der Pilgerwege nehmen die Begleiter die Fragen der Gruppe auf, bieten Liturgien an, und bearbeiten Lebensthemen.

Impulse aus der Natur

Dabei ist es nötig, dass man flexibel auf jede Gruppe, jeden Weg und sogar das Wetter eingeht, weiß Rist. Denn in der prallen Sonne lässt sich nicht gut meditieren, und wenn das Wetter trüb und der Weg steinig ist, sinkt meist auch die Stimmung der Pilger. Licht und Schatten, eine Bachüberquerung - es gibt viele Hinweise in der Natur, die Impulse geben können, über das eigene Leben nachzudenken. "Pilgern ist immer eine äußerliche, aber auch eine innerliche Bewegung."

Gemeinsam mit dem "Arbeitskreis Pilgern" der württembergischen Landeskirche schafft der Diakon zahlreiche Angebote: Neben mehrtägigen Touren auf den klassischen Pilgerwegen steht sogar ein Pilgern mit Lamas im Jahresprogramm. Auch speziell für Trauernde und für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind möchte Rist etwas anbieten.

Jetzt hält er mit seiner Schnuppergruppe vor einer Wegkreuzung, die symbolisch für das Entscheiden steht. Der Pilgerexperte lädt alle dazu ein, über Entscheidungen nachzudenken, die sie in ihrem Leben getroffen haben oder treffen wollen. Die Entscheidung, Pilgern zu seinem Beruf gemacht zu haben, bereut Rist jedenfalls nicht. "Das ist eine unglaubliche Horizonterweiterung." Auch in seinen Alltag hat er das Pilgern integriert - durch regelmäßige Gebete und Exerzitien in der Natur. Denn Pilgern ist für ihn mehr als Wandern - "es ist ein Lebensstil". Es gebe ihm Kraft, zweckfrei in der Schöpfung zu sein und in Kontakt mit Gott, dem Schöpfer zu treten, berichtet er.

Ein persönliches Ziel hat der 59-Jährige noch: Er möchte die Endetappe des Jakobsweges pilgern. Insgesamt war er bereits rund 3000 Kilometer auf dem Jakobsweg unterwegs - aber bis nach Santiago ist er noch nicht gekommen.