So kann es mit der Kirche weitergehen

Zukunft der Kirche
© Ben White/unsplash
Wie wird es mit der Kirche weitergehen?
So kann es mit der Kirche weitergehen
Vieles, was lange währte, geht heute den Bach runter. Die Welt ändert sich. Und mit ihr die beiden großen Kirchen, die stetig Mitglieder verlieren. Wie kann die Kirche sich retten?

Warum mir das 2019 wichtig war - Markus Bechtold, Stellv. Portalleiter bei evangelisch.de: Die Welt ändert sich ständig und mit ihr unsere Kirche. Meist bleibt im Wandel der Zeit kein Stein auf dem anderen. Und trotzdem sehnen sich viele von uns nach Beständigkeit. Dass man auch im steten Fluss der Neuerungen Geborgenheit und Heimat im Glauben findet, daran glaube ich fest. Und jeder einzelne von uns kann daran mitwirken.

Dieser Beitrag wurde bereits am 18.10.2019 veröffentlicht.

Die Lage ist brenzlig, aber nicht ausweglos. Die Kirchen sollen bis zum Jahr 2060 in Deutschland die Hälfte ihrer Mitglieder und Gelder verlieren. Der Anteil der Kirchenmitglieder soll dann bei rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung liegen. Heute sind mehr Frauen als Männer in der Kirche, wobei Männer die Kirche häufiger als Frauen verlassen. Die Ergebnisse der "Projektion 2060" der beiden Volkswirte Fabian Peters und David Gutmann vom Institut für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in Freiburg im Mai 2019, über die evangelisch.de berichtete, hatten für große öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt.

Wie sollen jetzt die evangelische und die katholische Kirche auf schwindende Mitgliederzahlen vor dem Hintergrund sinkender Taufbereitschaft und steigender Kirchenaustritte reagieren? Das überlegten zwei Tage lang Pfarrer*innen und Kirchenvertreter*innen aus dem deutschsprachigen Raum von Norddeutschland bis hin zur Schweiz in der Evangelischen Akademie im hessischen Hofgeismar beim ökumenischen Netzwerktreffen "Der Paulus Code. Mitgliederorientierung heute". Was vor 2000 Jahren dem Missionar Paulus gelang, nämlich das Christentum in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, den heutigen Milieus, an vielen Orten und in verschiedenen Kulturen zu verankern, soll heute wieder gelingen.

Es lohne, auf die Kirchenaustritte und auf die unterbliebenen Taufen zu blicken, sagen die Wissenschaftler Fabian Peters und David Gutmann. So lag die Taufquote im Jahr 2017 bei 80 Prozent. Vier von fünf Kindern wurden getauft, die meisten von ihnen in den ersten beiden Lebensjahren. In der evangelischen Kirche sei die Konfirmation der zweite wichtige Anlass für Taufen, berichtet Fabian Peters. Das klinge erst einmal gut. Bis zum 31. Lebensjahr aber würden 26 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen, die getauft wurden, auch wieder aus der Kirche austreten, so die Forscher. Hinzu käme, dass Frauen in Deutschland etwa mit knapp 31 Jahren erste Kinder bekämen. "Wenn jede fünfte Frau mit 31 Jahren aus der Kirche ausgetreten ist und wir sagen, dass unsere Taufquote von 80 Prozent gut sei, dann lügen wir uns doch so ein bisschen in die eigene Tasche", fasst Peters zusammen. Da ist also noch Luft nach oben. 

Als relativ häufiger Austrittsgrund werde zur Zeit der Missbrauchsskandal genannt. Ein genereller Austrittsgrund für viele 14- bis 28-Jährige ist: Wer seinen ersten bezahlten Job annimmt, wird auch erstmals kirchensteuerpflichtig. Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, die Kirche zu verlassen. Die jungen Menschen erhalten den Kirchensteuerbescheid und sollen bezahlen. "Und was bietet ihnen die Kirche im Gegenzug?", fragt Peters und gibt die Antwort: "nicht viel."

David Gutmann (links) und Fabian Peters interpretieren die Ergebnisse ihrer Studie.

Zeit zum Handeln sei jetzt. Mit kleinen Schritten, die in Gemeinden unternommen würden, könne aktiv dem Schrumpfen etwas entgegengesetzt werden. Ein Rechenbeispiel: Würde es den Kirchen gelingen, die Tauf- und Aufnahmebereitschaft um zehn Prozent zu erhöhen und gleichzeitig die Austritte um zehn Prozent zu verringern, dann würde sich die vorausberechnete Zahl der Kirchenmitglieder in allen Landeskirchen und Bistümern für das Jahr 2060 um zwei Millionen Menschen erhöhen. Konkret auf eine einzelne Gemeinde mit etwa 2000 Kirchenmitgliedern bezogen hieße das: Der Gemeinde müsste es gelingen, in zwei Jahren drei bis vier Austritte zu verhindern und drei zusätzliche Menschen zu taufen. "An diesem zehn Prozent-Szenario können wir arbeiten", sagt Peters. So läge eben nicht alles allein in Gottes Hand, sondern ein bisschen auch in der eigenen.

Wertschätzend Haltung zeigen

Wie ist die Welt, in der wir heute leben? Denkt man derzeit an Menschen, die sich auf der politischen Weltbühne behaupten, möchte man sich schütteln, fallen einem doch große Namen wie der amerikanische Präsident Donald Trump, der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-Un oder der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin ein. Ohne diese Namen genannt zu haben, blickt Bischof Michael Gerber vom Bistum Fulda auf eben solche Persönlichkeitstypen, die sich heute durchsetzten. Viele Christen hingegen hätten eine besondere Fähigkeit, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft wertvoll werden könne: den anderen und seine Meinung gelten zu lassen. Auf dieser Grundlage sei die frühe Kirche gewachsen. Damals hätten die Menschen gespürt, dass eine Gruppe miteinander unterwegs war, die zwar auch vor sehr großen Herausforderungen gestanden hätte, aber anders mit diesen Spannungen umgegangen sei und sich verständigt hätte.

Diese Haltung ist auch für André Kendel, Theologe und Pfarrer der evangelischen Landeskirche Baden, ein Schlüssel zur erfolgreichen Mitgliederorientierung. Menschen sollten nicht länger etikettiert und für eigene Belange funktionalisiert, sondern wertgeschätzt werden. Früher habe die Kirche Angebote gemacht und die Menschen hätten diese wahrgenommen. Das funktioniere schon lange nicht mehr. Mitgliederorientierung betreffe alle kirchlichen Arbeitsfelder. Sie fange damit an, mit den Menschen gemeinsam auf Kirche zu schauen und darauf, was beeinflussbar und wertvoll ist.

  

Immer wieder kommt es auf der Tagung zu Wortmeldungen. So kritisiert Teilnehmer Rüdiger Schulze aus der badischen Landeskirche, dass die Trauquote bei den Protestanten und Katholiken gesamtkirchlich bei unter 30 Prozent liege. Und in Hamburg betrage die Beerdigungsquote bei den Kirchenmitgliedern unter 50 Prozent. Der Kirche gelinge es nicht, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Das müsse sich ändern.

Auch aus diesen Gründen plädiert der katholische Theologe Ulrich Riegel, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Siegen, dafür, jetzt auf die Menschen zu schauen, die in der Kirche sind, und nicht zu versuchen, denen nachzulaufen, die bereits weggegangen sind. Tobias Faix, Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, nimmt dabei eine Gruppe besonders in den Blick: 14 Prozent der Menschen dächten gelegentlich über einen Kirchenaustritt nach und sechs Prozent gäben an, demnächst auszutreten. "Diese 20 Prozent spielen eine wichtige Rolle. Sie sind noch Mitglied in der Kirche. Sie sind für uns relativ einfach zu erreichen und noch in unserem Dunstkreis", sagt Faix.

Er fügt hinzu: "Wir müssen nicht mehr für Menschen, sondern mit Menschen arbeiten." Die Beziehung zu den Menschen sei der Schlüssel zu ihnen. Tobias Faix fragt, ob die Angebote der Kirche überhaupt noch an die Lebenswelt der Menschen andockten. Kirche müsse dem Menschen zugewandt und offen gegenübertreten. "Eine Beziehung lebt vom Atem, von dem, was wir sind, vom Luft holen. Wenn Kirche dafür keine Kraft hat, dann wird sie irgendwann im Eigenen ersticken", so Faix. Kirche müsse auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen. Wie das gelingen kann, erzählt er evangelisch.de im Video:

Prof. Dr. Tobias Faix erzählt, wie Kirche es schaffen kann, eine Beziehung zu den Menschen herzustellen.

Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamts der EKD, findet die Reaktion auf die Veröffentlichung der "Projektion 2060" erstaunlich. "Es gab in der Öffentlichkeit kaum Häme, es gab eher Betroffenheit. Viele fragten sich: Wie stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die keine stabilen Kirchen mehr hat?" Thies Gundlach habe eine Sorge wahrgenommen: "Was passiert mit uns eigentlich, wenn wir diese Institution auch nicht mehr haben?" Er spricht die Anwesenden an: "Wenn Sie Veränderungen in unserer Kirche machen wollen, werden Energien frei, die Sie sonst nie mobilisieren könnten." Was wolle Gott uns damit sagen, dass die Kirche kleiner werde?

Wir müssten den Gott der Befreiung neu entdecken und fragen, von was wir befreit werden müssen als Kirche. Gundlach spricht dabei von Verwaltungslust, erschöpfter Routine und Gremienwildwuchs. Ihm ist wichtig, eine geistliche Erzählung für die kommenden Jahre zu finden, um die Menschen auf die Änderungen vorzubereiten und sie mitzunehmen. "Gott will bei uns sein." Deshalb liegt für ihn im Bild der "Wüstenwanderung der Kirche" eine Chance zur Gesundung: eine Aufbruchssituation leben, den Glauben neu mit leichtem Gepäck entdecken und bisheriges konstruktiv hinterfragen. Thies Gundlach ist wichtig, das Kleinerwerden zu gestalten statt es zu erleiden. Er fragt sich: "Ist Gott müde geworden aufgrund der ständigen konfessionellen Reibereien?" Die Zukunft der Kirche werde keine Kirche der Fläche mehr sein, sondern aus vielen starken geistlichen Einzelgemeinden bestehen.

Auf in die Zukunft

Zwei Strömungen sind unter den Teilnehmenden auf der Tagung klar erkennbar: Die einen wollen sich und anderen erst einmal den Mitgliederschwund bewusst machen. Anderen wiederum kann es nicht schnell genug gehen, neue Pfade einzuschlagen, um die drohende Disruption hinter sich zu lassen. Beklagt wird dabei unter anderem die Ausrichtung der Vikariatsausbildung der Pastorinnen und Pastoren, die nicht Schritt halte mit der veränderten Lebenswelt der Gläubigen. Pfarrerin Hanna Jacobs von raumschiff.ruhr regt an, dass digitale Themen bei der Mitgliederorientierung künftig mehr Raum bekommen sollten. Eines ist auf der Tagung allen klar geworden: Kirchenleitende müssen überzeugt werden, jetzt Neues mit den Menschen gemeinsam auszuprobieren. Dabei solle man selbstkritisch sein. Mitgliederorientierung heißt demnach auch, sich selbst zu verändern.