Sterben und blühen

Getreidefeld auf dem früheren Todesstreifen
© epd-bild/Jürgen Blume
Auf dem knapp einen halben Hektar großen Getreidefeld auf dem früheren Todesstreifen wird jedes Jahr der Roggen geerntet.
Sterben und blühen
Auf dem Gelände des ehemaligen Todestreifens in der Bernauer Straße in Berlin wird seit einigen Jahren rund um die Kapelle der Versöhnung Roggen geerntet. In diesem Jahr war zum ersten Mal auch ein Imkerverein dabei.

Ein Mähdrescher bahnt sich brummend seinen Weg durch das Feld, der aufgewirbelte Staub des Strohs mischt sich in die flirrende Hitze des Hochsommertages. Menschen mit Sensen sind auf einem zweiten Feld im Einsatz und mähen sogar schneller als die Maschine. Und mittendrin, zwischen den beiden kleinen Roggenfeldern, steht der von acht Meter hohen Holzlamellen umfasste ovale Rundbau der "Kapelle der Versöhnung", die im Jahr 2000 eingeweiht wurde. Es ist Erntezeit auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße in Berlin.

Das Roggenfeld wurde im Jahr 2005 als Kunstaktion gepflanzt. Auf dem ehemaligen Todesstreifen sollte wieder etwas wachsen. Seit 2014 kümmert sich der Verein Friedensbrot darum, dass ein Teil der Ernte gemeinsam mit Getreide aus elf weiteren europäischen Ländern als Zeichen für den Frieden verbacken wird. Dieses Jahr geht die Reise für die Körner nach Litauen. Der Roggen wird jeweils an historisch bedeutenden Orten der Wendezeit in den mittel- und südosteuropäischen Ländern angebaut, als Zeichen des Neuanfangs nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

1961 wurde die Bernauer Straße ein Ort, an dem die deutsch-deutsche Teilung besonders spürbar war, denn hier verlief die Grenze zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt. Auf Flüchtende wurde scharf geschossen. Die Menschen aus dem Westen in den Häusern nördlich des Straßenverlaufs blickten in eine Sperrzone. Die Fenster, die auf dem Gebiet der DDR lagen, wurden zugemauert. Heute liegt an der Bernauer Straße die zentrale Gedenkstätte für die Berliner Mauer.

Am Tag der Roggenernte stehen die Lokalreporter von Fernsehen und Print und ein paar Touristen an den Rändern des Feldes und beobachten das Geschehen. Einer der "Erntehelfer" ist Michael Baumecker von der Humboldt Universität Berlin. Seit 2007 ist die Universität an dem Projekt beteiligt. Heute Morgen um acht Uhr seien sie von der HU-Forschungsstation in Thyrow (südl. von Berlin) mit dem Parzellenmähdrescher aus losgefahren - den man brauche, um die kleine Fläche zu mähen.

"Am 8. Oktober wurde gedrillt, am 7. November das erste Mal gestriegelt, am 1. April noch mal", beschreibt der Agrarwissenschaftler die Arbeit der vergangenen Monate auf diesem besonderen Feld, dessen Herausforderung nicht nur in der Größe liegt, sondern auch in seiner Beschaffenheit. Die evangelische Kirche, die mitten auf dem Todestreifen lag, wurde 1985 gesprengt. Ergebnis des Abrisses der Kirche sei ein Schuttboden, für den man nun Mineraldünger brauche, um den Boden überhaupt fruchtbar machen zu können.

Ein Teil des Feldes wurde mit der Sense gemäht, um die langen Strohhalme anschließend zu sogenannten Bienen-Schieden zur ökologischen Bienenhaltung zu verarbeiten.

Das Korn kommt anschließend an den Universitätsstandort nach Berlin-Dahlem. Dort wird es erst getrocknet, um dann den Müll der Großstadt herauszufiltern: Staub, Strohreste, Glasscherben, Plastikreste und Silvesterböller. Die Roggenkörner, die übrig bleiben, werden zu Friedensbrot, sowie Brot und Oblaten für die Gemeinde verarbeitet und in kleine Körnersäckchen gefüllt, die man in der Kirche kaufen kann. Riesenerträge erwartet hier niemand. Auch der heiße Sommer 2018 hat seine Spuren hinterlassen. Am Ende werden es 220 Kilogramm sein, die in einer historischen Mühle in Berlin-Marzahn landen.

Diejenigen, die das Feld mit der Sense bearbeiten, sind Mitarbeiter der Caritas-Behindertenwerkstatt St. Johannesberg aus Oranienburg. Der Vorteil der Sense besteht darin, dass der Halm nicht zerstört wird. Und diese Halme braucht der Imker-Verein Mellifera, um Strohschiede zu bauen. Das sind nachhaltige Dämmungen für Bienenstöcke, denn dem Verein geht es um die Bienen und nicht um deren Ertrag.

Carlo Wolf-Gerssdorff hat im Garten hinter der Kapelle einen Bienenstock.

Carlo Wolf-Gerssdorf ist passionierter Imker und hat eigene Bienenstöcke im Garten hinter der Kapelle. Durch sein Mitwirken ist Mellifera in diesem Jahr zum ersten Mal an der Roggenernte beteiligt.

Der aus Mainz stammende Wolf-Gerssdorf ist Gemeindemitglied seit er vor 20 Jahren nach Berlin gezogen ist. Schnell war ihm klar, dass diese Gemeinschaft in der Mitte Berlins seine neue Gemeinde werden sollte, weil sie wie keine andere für Frieden und Versöhnung steht. Seit fünf Jahren ist der 60-Jährige Wolf-Gerssdorf  zudem ein so genannter "Hüter der Kappelle" Das Kapellenhüter-Projekt gibt es seit 2014 und ist ein Ehrenamt.

Die Kapelle im ehemaligen Todesstreifen ist ein Ort von Versöhnung geworden.

Täglich zur Mittagszeit finden biografische Andachten im Gedenken an die 142 Mauertoten statt. Jeden Tag wird einem dieser Menschen im Besonderen gedacht, indem die Zuhörer*innen etwas über die Person und ihr Leben erfahren. Die Kapellenhüter sind dort, um Touristen aus aller Welt Fragen zum Ort zu beantworten und ermöglichen es erst, dass die Kapelle fast immer geöffnet sein kann. Mittlerweile gibt es bis zu 45 Menschen, die diese Aufgabe erfüllen.

Lange bevor die Grenze fiel, besuchte Wolf-Gerssdorf mit seinem kleinen Sohn die Stadt. Mit dem Baby auf dem Arm stand er auf einem dieser Podeste, die man damals überall im Westteil fand, von denen aus man in den Osten blicken konnte und war sich des Glücks der eigenen Freiheit bewusst: "Der hat gespürt, dass sein Papa gerade etwas außerordentlich Intensives erlebt." Ein Gefühl, dass spätere Generationen, die die Teilung Deutschlands nur noch aus Geschichtsbüchern kennen, kaum nachvollziehen könnten.

Dass er nun im Garten hinter der Kirche, wo die von Nachbarn und Gemeindemitgliedern gepflanzten Stockrosen, Sonnenblumen und Wildkräuter blühen, eigene Bienenstöcke hat, ist für Wolf-Gerssdorf Ausdruck der guten Arbeit des verstorbenen Pfarrers Manfred Fischer, der auf dem ehemaligen Todesstreifen die Idee von Versöhnung in die Gemeinde und die Nachbarschaft trug und offen für die Mitwirkung von Vielen war: "Heute bin ich Gemeindemitglied, habe meine Bienen hier und erlebe diesen Ort noch immer als etwas ganz Besonderes, hier sein zu können, hier sitzen zu können. Friedlich."