Obdachlos draußen unterwegs

Die Hamburger Straßenzeitung Hinz & Kunzt
Foto: Bernd Jonkmanns/laif
Die Hamburger Straßenzeitung Hinz & Kunzt wurde vor bald 25 Jahren gegründet, um die Situation von Obdachlosen zu verbessern.
Obdachlos draußen unterwegs
Inside Obdachlosigkeit – Doku-Film "Draußen" und die Realität
Ihre Nachtlager unter Brücken oder in den Grünanlagen der Großstädte sind vielen ein Ärgernis. Was Obdachlose aber denken und fühlen, wenn die eigene Geschichte sie immer wieder einholt, das ist Thema in dem Dokumentar-Film "Draußen". Die Mitarbeiter von Diakonie und einer Straßenzeitung berichten von ihren Erfahrungen.

Dem Straßenlärm ist nicht zu entkommen. Erst recht nicht, wenn man unter einer Autobahnbrücke lebt. Doch Elvis, 71 Jahre alt, hat trotzdem gute Laune, sorgfältig legt er seine Schlafsäcke zusammen. Auf einer Tagesdecke über seinem Bett drapiert er liebevoll einen Schal vom 1. FC Köln. Wie in einem Ritual stellt er am Schluss einen kleinen Blumentopf auf den Tisch.

Elvis, der sich nach seinem Musik-Idol benennt, ist obdachlos in Köln. Ihm ist wichtig, dass er sein Lager sauber hält, es könnten ja Spaziergänger vorbeikommen. Erst nach und nach kommt heraus, dass seine liebenswerte Marotte offenbar Folge einer frühkindlichen Traumatisierung im Heim war. Erst mit 21 kam er aus der Anstalt heraus. Trotz Startschwierigkeiten fand er eine große Liebe, wollte seine Freundin heiraten. Doch ein tödlicher Verkehrsunfall, bei dem seine Freundin starb, beendete alle Pläne. Das warf Elvis völlig aus der Bahn. Nur die Musik des Rock ‘n‘ Roll-Sängers Elvis tröstet ihn bis heute. Das ist sein Anker.

Wieder pünktlich, verbindlich und freundlich sein

Straßensozialarbeiter treffen immer wieder auf solche Lebensgeschichten. Auch Birgit Müller, Chefredakteurin der Obdachlosen-Zeitung Hinz&Kunzt bestätigt das. Leute wie Elvis, "die schon als Kind keine Chance bekommen haben". Sein Vater steckte den kleinen Jungen ins Heim. Bevor jemand überhaupt ins Heim komme, seien immer schlimme Dinge passiert, sagt Müller. Menschen werden labil und später reiche ein dramatisches Ereignis wie der Tod eines lieben Menschen aus – das könne einem schon den Boden unter den Füßen wegziehen, erläutert Müller. Viele Obdachlose seien alltagstraumatisiert, die bräuchten eigentlich noch ganz andere Unterstützung, nämlich psychotherapeutische Hilfe.

Hinz und Kunzt wird auf der Straße verkauft.
Die freien Wohlfahrtsträger haben in vielen Städten umfangreiche Hilfsangebote aufgebaut. Auch die Hamburger Straßenzeitung Hinz & Kunzt wurde vor bald 25 Jahren gegründet, um die Situation von Obdachlosen zu verbessern. Die Diakonie ist hier Gesellschafter. Die Zeitung gehört mit einer monatlichen Auflage von 60.000 Exemplaren zu den größten in Deutschland. Obdachlose erhalten dort eine zweite Chance, zunächst eine Aufgabe, die ihnen ein Taschengeld sichert. Aber eigentlich geht es um viel mehr: 500 Obdach- und Wohnungslose verkaufen in Hamburg die Straßenzeitung - sie bekommen dadurch wieder eine Struktur in ihren Tag. Und wenn sie erfolgreich sein wollen, müssten sie lernen, pünktlich und verbindlich zu sein. Auch freundlich sein, unterstreicht Müller. Dabei hätte ein Teil durchaus Suchtprobleme, die Verkäufer lebten ja nicht abstinent. Aber die Erfolge mit den verkauften Zeitungen geben ihnen viel von ihrer Würde zurück, sagt sie.

Konktakte zur Familie und zu Freunden fehlen

In der Hamburger Altstadt hat Hinz & Kunzt ihr Domizil, dort sitzt die Redaktion, dort helfen Sozialarbeiter. Dort ist der Vertrieb und viele Obdachlose trinken dort einen Kaffee, tauschen sich aus und holen ihre Zeitungen ab. Vielen hat Müllers Team Jobs verschafft, später auch eine eigene Wohnung. Immer wieder finden Müllers Mitstreiter bekannte Schauspieler und Moderatoren, die sie bei Kampagnen und Spenden-Aktionen unterstützen. Eigentlich können alle Unterstützer durch das Projekt lernen, ein wenig Menschlichkeit weiterzugeben. Und sei es nur, wenn man dem Verkäufer der Straßenzeitung grüßt und auf Augenhöhe begegnet.

Die Obdachlosen sind zwar in den Städten überall sichtbar, aber über ihr Leben ist kaum etwas bekannt. Manch einer lebt in einem Waldstückchen unter einer Plane und kommt nur zum Flaschensammeln in die Stadt. So wie Matze, der von Kaffee, Haferflocken und Milch lebt – dafür brauche er nur einen Euro am Tag. Auch solche Lebensentwürfe kennt Müller aus ihrer Arbeit. Dass Obdachlose den Kontakt zur Familie und Freunden verlieren und sich völlig zurückziehen. "Wir haben auch Verkäufer, die sehr zurückgezogen leben, die sich in ihrer eigenen Welt wohlfühlen und auch ganz stolz darauf sind", sagt die Chefredakteurin der Straßenzeitung. Aber es sei wichtig, dass sich die Leute ihr Zuhause selber bauen. "Sie "behausen sich selbst, sie behüten sich selbst, weil sie kein Vertrauen mehr haben in andere Menschen". Auch hier geht Müller von einer Traumatisierung aus. Jeder Straßenarbeiter und Therapeut wisse um die Probleme, dass es schwierig sei, jemanden der traumatisiert sei zu helfen.

In Hamburg gibt es nach Schätzungen der Diakonie ungefähr 2000 Obdachlose. Doch das sei nur "die Spitze des Eisbergs", sagt Diakonie-Referent Stephan Nagel. Der größere Teil der Wohnungslosen falle gar nicht auf, weil er nicht auf der Straße lebe. Insgesamt gebe es 22.000 Menschen ohne eigene Wohnung in Hamburg, davon lebten 4500 in öffentlichen Heimen und Unterkünften. Der andere große Teil seien EU-Zugewanderte und Flüchtlinge, die keine eigene Wohnung hätten. Die lebten in Unterkünften oder bei Freunden, mal hier mal dort. Nagel sagt, dass die Wege in die Wohnungslosigkeit häufig ähnlich verliefen. Da reiche manchmal eine Scheidung und Jobverlust aus, bis man die Wohnung nicht mehr zahlen könne und gepfändet werde.

In Hamburg wie in vielen Großstädten existiert ein umfangreiches Hilfsangebot für Obdach- und Wohnungslose. Die freien Wohlfahrtsträger bieten medizinische Hilfe an, unterhalten Tagesaufenthaltsstätten und Wohnhäuser, Mittagstische und Kleiderstuben. Doch die Notversorgung sei das eine. Wichtiger sei es, den Menschen eine Perspektive zu bieten, dass sie wieder eigene vier Wände bekommen, dass sie sich um Job und ihr Leben kümmern könnten, sagt Nagel. Es müsste genügend bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Die Diakonie habe Pläne entwickelt wie in fünf Jahren die Zahl der Wohnungslosen halbiert werden könne.

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Unterdessen steigt die Zahl der Obdachlosen in den Großstädten weiter an, aus verschiedenen Gründen. Viele aus der EU aus Osteuropa, die in Deutschland gearbeitet haben oder wollten und auf der Straße gelandet sind. Vor S und U-Bahnhöfen hängen sie zusammen ab, ertränken ihren Kummer in Alkohol oder Drogen. Viele betäuben sich aus Scham, bevor sie betteln gehen, sagt Müller von "Hinz & Kunzt".

So werden auch immer häufiger Leute in Straßenbahnen und Cafés um eine Spende angehauen. Und darüber seien die Bürger "nicht nur traurig, sondern viele reagierten auch aggressiv auf die Bettler", fasst Müller zusammen. Doch die Not der Menschen werde deshalb nicht weniger. Es sei hilfreich, wenn man eine Strategie habe, wie man mit den ständigen Anfragen umgehen kann. Birgit Müller findet, man sei nicht für jeden verantwortlich. Aber man könne doch wenigstens einen Obdachlosen unterstützen und dem etwas geben. Und bei den anderen kann man freundlich sagen: "Nein danke."