Schule auf der Palliativstation

Georg Rustler und die 16-jährige Luisa
Foto: Lilith Becker
Georg Rustler und die 16-jährige Luisa.
Schule auf der Palliativstation
Auf der Palliativstation lernen Schüler den Umgang mit Menschen an ihrem Lebensende. Aber sie lernen nicht nur - denn sie können auch etwas zurückgeben.

Die 88-Jährige hat Schläuche in der Nase. Sie sitzt auf ihrem Krankenhausbett, isst Blechkuchen mit Kirschen aus einem weißen Kunststoffschälchen. "Lecker", sie atmet schwer. "Eine Lungenfibrose habe ich", sagt sie, "bald kann ich gar nicht mehr atmen." Luisa und Marie sitzen ihr gegenüber und beobachten sie. "Kann man das nicht mehr heilen?", fragt Marie. "Nein", sagt die kleine Frau mit den kurzen weißen Haaren, die vom vielen Liegen zerzaust sind.

Die 16-jährige Luisa und die 15-jährige Marie sind für die Schule hier. Einmal in der Woche die Palliativstation des Markuskrankenhauses in Frankfurt am Main zu besuchen, gehört zu ihrem Wahlpflichtfach "Lernen durch Engagement". Die Mädchen haben gerade noch das Essen ausgeteilt und sind nun in dieses Patientenzimmer gegangen, um sich zu unterhalten. Die Ärztin oder die Kunsttherapeutin der Station kündigen den Patienten jeden Donnerstagmorgen an, dass mittags die Schüler für eineinhalb Stunden da sind. "Haben Sie Lust sich mit unseren Schülern zu unterhalten?", fragen sie dann.

Irgendjemand möchte das regelmäßig. "Ich glaube, dass meine Fibrose aus dem Krieg kommt", sagt die Frau. Die schlechte Luft im Keller könnte Schuld gewesen sein, vermutet sie. Da habe sie mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester viel gesessen, während die Flugezuge über Wuppertal ihre Bomben abwarfen. Dann erzählt sie noch, dass sie einen Sohn hat, der in Australien lebt und dass sie ihren achtjährigen Enkel bisher nur einmal gesehen habe. Jetzt werde sie sterben, der Sohn lasse sich aber die Weisheitszähne ziehen, deswegen könne er diese Woche nicht kommen.

Luisa und Marie hören zu, manchmal fragen sie etwas nach, insgesamt sind sie einfach still und lassen die Frau reden. Dann kommt Friederike Strub, die Kunsttherapeutin: "Ihr müsst zurück in die Schule", sagt sie. Die Mädchen stehen auf, verabschieden sich. Kommende Woche ist die Frau möglicherweise nicht mehr da. Die meisten Patienten auf der Palliativstation bleiben solange, bis sie sich ein wenig erholt haben und auf ihre neuen, schmerzlindernden Medikamente eingestellt sind. Nur wenige sterben hier.

Zehn Schüler der zehnten Klasse können für ein Schuljahr lang die Palliativstation besuchen. Sie versammeln sich jeweils zu Beginn und zu Ende ihrer Zeit auf der Station, in einem Raum in der Mitte. Er ist hell wie die zwei Flure, die durch Fensterfronten nach innen voneinander getrennt liegen. Eine Terasse liegt zwischen den zwei Fluren, die mit Blumen geschmückt ist. Das Licht, die Bilder, die Dekoration und die Blumen, sie machen die Station zu einem freundlichen, hellen Ort.

Während Luisa und Marie zuhören, machen die anderen Schüler etwas für die Station. Manchmal backen sie Waffeln oder kochen Gemüsesuppe, an anderen Tagen basteln sie zur Jahreszeit passende Dekoration. Kunsttherapeutin Friederike Strub, die sonst Kreatives für die Patienten anbietet, begleitet die Schüler und ist deren Ansprechpartnerin, genauso wie Stationsleiterin Angelika Berg. Zum dritten Mal arbeiten die Ernst-Reuter-Schule und die Palliativstation im Schuljahr 2016/17 zusammen. Jedes Jahr mache sie neue Erfahrungen mit den Schülern, sagt Friederike Strub; jede Gruppe von Schülern habe ihr eigenes Thema. Der aktuelle Jahrgang habe sich vor allem gefragt, wie man überhaupt in ein Gespräch mit den Patienten kommt, was man sie fragen darf und was lieber nicht.

Die Jugendlichen gehen offen mit dem Thema Tod um, hat Oberärztin Angelika Berg festgestellt. "Die Jugendlichen merken, wo ihre Grenzen sind", sagt sie. Als ängstlich und verunsichert nehme sie häufig die Eltern wahr. Zu Beginn des Schuljahres veranstalte die Station deswegen einen Elternabend. "Dass ihre Kinder zuviele Tote sehen könnten, befürchten manche Eltern", sagt Angelika Berg. Doch wenn jemand auf der Station stirbt, sei es nicht üblich, dass die Jugendlichen den Leichnam sähen. Auch zu Patienten mit ansteckenden Krankheiten oder psychischen Problemen würden die Jugendlichen nicht geschickt.

"Ein Mädchen wollte unbedingt nochmal eine Frau sehen, mit der sie am Tag vor deren Tod gesprochen hatte", erzählt die Oberärztin. Da die Angehörigen zustimmten, durfte sie. "Wir sprechen zum Abschluss der eineinhalb Stunden auf der Station über das, was passiert ist", sagt Friederike Strub. So könnten die Schüler das, was sie auf der Station erleben, auch dort lassen.

"Und, wie war's?", fragt Mitschüler Luca, als Luisa und Marie von Friederike Strub begleitet zurück in den Gemeinschaftsraum kommen. "Hart", sagt Luisa. Sie und Marie erzählen vom Sohn in Australien, vom achtjährigen Enkel, den die Oma nur einmal gesehen hat. Die anderen hören nun zu.