Nichts als Liebe: Luthers fünf fehlende Thesen

Foto: Roland Dieckmann
Szene aus "Apocaluther": Martin Luther steht vor dem Tribunal der "Mächtigen der Welt aller Zeiten".
Nichts als Liebe: Luthers fünf fehlende Thesen
Autorin Ulrike Streck-Plath über ihr Musiktheaterstück "Apocaluther"
Zum Reformationsjubiläum hat die Maintaler Autorin Ulrike Streck-Plath sich mit Luthers 95 Thesen beschäftigt. In ihrem Musiktheaterstück "Apocaluther" stellt sie fünf weitere Thesen vor und verbindet sie mit Erkenntnissen aus der Psychologie. Ihre zentrale Aussage: Gott ist bedingungslose Liebe. Sie anzunehmen, ist jedes Menschen eigene Sache.

Der Inhalt von "Apocaluther": Martin Luther kommt zurück auf die Erde, denn er hatte fünf Thesen vergessen. Mit Hilfe der Kinder verbreitet er die Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes, die Menschen seelisch heilen kann. Nachdem die Kinder die neuen Thesen im Internet veröffentlicht haben, wird Luther vor das Tribunal der "Mächtigen der Welt aller Zeiten" gestellt, verkörpert von drei Maskierten. In deren System muss man sich Liebe erarbeiten: Geliebt wird nur, wer Leistung bringt, den Mund hält oder gefürchtet wird. In diesem System herrscht Angst. Luther soll widerrufen, bleibt aber – unterstützt von den Kindern – bei seinen fünf Thesen von der bedingungslosen Liebe. Kurz vor dem Urteilsspruch erscheint ein Engel und bringt zwei Briefe mit, einen von den Eltern der Mächtigen und einen von Gott. Nach der Lektüre der Briefe nehmen die drei Richter ihre Masken ab und lassen sich umarmen. Das Stück endet mit einem Original-Lutherzitat, einer Auslegung des Gebotes "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst".

Ganz schön mutig, Luther fünf weitere Thesen in den Mund zu legen. Wie kamen Sie darauf?

Ulrike Streck-Plath
Ulrike Streck-Plath

Ulrike Streck-Plath (geboren 1965) ist die Autorin und Komponistin des Musikthaterstücks "Apocaluther". Die studierte Designerin arbeitet sei 1997 als freischaffende Texterin/Konzeptionerin. Seit 2008 beschäftigt sie sich darüber hinaus als bildende Künstlerin mit Leid versus Geborgenheit in der Geschichte der Menschheit. Ulrike Streck-Plath ist verheiratet und Mutter von fünf Kindern.

Ulrike Streck-Plath: Der Ausgangspunkt war, dass ich mir schon immer gedacht habe: Die Apocalypse hat längst stattgefunden. Es ist so viel Schreckliches auf der Welt passiert und passiert immer noch – was soll denn noch geschehen? Und die Leute haben immer Angst davor. Irgendwann kam ich darauf, dass ja eigentlich die Menschen es in der Hand haben, was passiert. Jesus hat gesagt: "Dir geschehe, wie du glaubst." Wenn die Menschen also weiterhin glauben, dass alles schrecklich wird, dann wird es wohl so bleiben. Darüber wollte ich ein Stück für den Kinderchor machen.

Dann kam Luther dazwischen…

Streck-Plath: Ja, plötzlich war da dieses Bild von Luther, der durchs Fenster steigen will. Es ist bei kreativen Prozessen gar nicht so leicht, die Genese zu rekapitulieren. Auf jeden Fall war die Idee, ein Stück über die Apocalypse zu schreiben, eher da als Luther. Und dann bin ich auf das Thema der bedingungslosen Liebe gestoßen – was ist das eigentlich? Die Leute reden so viel über Liebe und denken, bedingungslose Liebe sei, wenn man alles Mögliche aushält und sich gefallen lässt – weil es ja bedingungslos ist, weil man den anderen ja so liebt, also kann er mit einem machen, was er möchte. Aber es ist anders: Bedingungslose Liebe ist einfach da. Das heißt, sie ist nichts, was man sich erarbeiten müsste oder was man verlieren könnte. Das menschliche Desaster findet ständig zwischen diesen Extremen statt, dass man etwas verliert oder etwas nicht bekommt. Die Psychologie beschäftigt sich damit, Beziehungs- und Machtstrukturen basieren darauf: Wenn du nicht tust, was ich sage, dann …!

Aber bei Luther haben Sie was anderes gefunden?

Streck-Plath: Ja, als ich einen Zeitungsartikel in die Hand bekam über das neue Buch von Reinhard Schwarz: "Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion". Ich las den Zeitungsartikel und dachte mir: Das mit der bedingungslosen Liebe kann ich alles Luther in den Mund legen. Mein Mann hatte das Buch schon im Regal stehen... Blieb die Frage, wieso eigentlich noch keiner verstanden hat, dass Luther es schon gewusst hat? Die bedingungslose Liebe Gottes ist einfach da und das Getrenntsein des Menschen vom Göttlichen existiert nicht mehr.

Ist das nicht schon Inhalt des Neuen Testamentes?

Streck-Plath: Ja, wir bräuchten eigentlich keinen Luther, um das zu wissen. Luther war Katholik, Jesus war Jude und spirituelle Schulen aller Welt wissen auch, dass die Verbindung eigentlich da ist. Das ist skurril. Ich habe Luthers 95 Thesen durchgelesen und mir gedacht: Also im Grunde genommen hat der seine wichtigsten Thesen noch gar nicht gesagt. Die Genese des Stücks war schon ziemlich schrill, und meine Mutter, die von diesem ganzen Dingen nichts wusste, fragte sich, als sie es gelesen hatte, wie ich auf solche Ideen komme. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich weiß es selber nicht. Man schreibt das und fragt sich: Wo kommt das her?

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Wenn man versucht, die bedingungslose Liebe Gottes und die Tatsache, dass sie einfach da ist, zu akzeptieren, ins Leben zu integrieren und davon zu leben – geht das überhaupt? Und was wären die Konsequenzen?

Streck-Plath: Das ist ein Wahnsinns-Prozess! Es ist irre. Denken Sie an die drei Masken, die das Tribunal darstellen. Die bekommen einen Brief von Gott, in dem vermutlich einfach nur drinsteht: "Ich hab dich bedingungslos lieb wie du bist." Trotz allem, was diese Masken alles so auf dem Kerbholz haben. Das ist ja eigentlich für den Zuschauer unerträglich, denn wer sind die Masken? Ist das Hitler? Ist das Stalin? Klar sind die dabei. Unerhört! Da kann doch Gott nicht sagen: "Ich hab dich lieb." Aber das ist eben nicht mehr dieser Rachegott oder irgendeine Vorstellung von "der beurteilt mich". Sondern die Liebe ist einfach da. Luther sagt, der Mensch sei in sich gekrümmt, der homo incurvatus in se. Die moderne Psychologie kennt das auch, die redet von Schattenseiten, vom verlorenen Selbst, von verlorenen Seelenanteilen. Das heißt, wie auch immer man es nennt, es sieht eigentlich bei uns relativ dunkel aus. Jeder versucht natürlich, das nicht zu fühlen, sonst könnten wir gar nicht existieren. Wenn man sich jetzt die göttliche Liebe als eine Art Licht oder Kraft vorstellt, mit der man sich verbindet, bedeutet das modellhaft für mich: Dann wird es plötzlich hell in einem selbst. Wir kennen das vielleicht alle aus solchen Zeiten, wenn man in einer wunderschönen Situation ist und denkt: "Boah, das soll jetzt so bleiben! Ich fühl mich jetzt total in mir und in allem, was ist. Das will ich haben!" Letztendlich ist es das Gefühl der Mystiker, die das Gefühl einmal hatten und es zurück haben wollen. Dann müssen sie diesen Weg gehen.

Geht das denn auch, wenn man an den Umständen nichts ändern kann? Ich denke an Menschen, die durch ihre Arbeit einfach in einem Kreislauf von Leistungsanforderung und Erschöpfung drin stecken und immer diesen Druck spüren: "Ich muss hier alles richtig machen."

Streck-Plath: Ja, das geht. Ich glaube, dass das auch ein gesellschaftlicher Prozess ist, der übrigens gerade im Gange ist. Das Reformationsjubiläum kommt irgendwie zur richtigen Zeit. Die meisten Leute möchten doch einfach schön leben. Sie wollen sich gut fühlen, sie wollen kein Burn-out bekommen, sie wollen auch keine Depression haben. Aber wir sind alle so gepolt, dass wir immer nach außen gucken. Wir gucken immer: Wo ist derjenige, der das für mich regelt? Weil wir überhaupt nicht gelernt haben, das selbst zu tun. Es heißt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", was ja in allen Weltreligionen Quintessenz ist. Das bedeutet, dass man sich wirklich erstmal selbst lieben soll, und wie soll das bitte jemand tun, der von sich selber denkt, er sei nicht richtig? 

"Mir liegt es am Herzen, diese Erkenntnis weiterzugeben: Mensch, du hast das in der Hand, du entscheidest!"

Das ist die Kernfrage.

Streck-Plath: Das ist die Kernfrage. "Ich bin falsch, ich mach's nicht richtig, ich bin verkehrt." Die Hirnforschung weiß, dass Kinder bis zum sechsten Lebensjahr die schlimmsten Dinge in ihrem Leben lernen, nämlich alles, was an ihnen nicht richtig ist. Da können Eltern noch so emphatisch sein, noch so bemüht, noch so wunderbar – sie selber haben schon so viel Schatten in sich, dass sie das ihrem Kind spiegeln. Das Kind nimmt das wahr und integriert es. Denn das Kind ist offen, es kennt nichts anderes als Liebe. Das heißt, es versteht alles, was ihm passiert, als Liebe. Nehmen wir jetzt noch die transgenerationale Weitergabe von Traumata dazu – so weit gehe ich in meinem Gedankengut hinter "Apocaluther" – was haben wir denn da eigentlich für verstrickte Menschen? Sie sind innerlich verkrümmt und mit sich selbst, mit ihrer Sippschaft, mit ihrem Gegenüber verstrickt. Das zu heilen, ist ein individueller Weg. Es ist ein spiritueller und auch ein harter Weg, weil man sich diesen Schatten stellen muss. Aber das Schatten-Haben tut viel mehr weh als die Schatten zu transformieren in… es klingt so platt, wenn ich jetzt sage: ins Helle oder ins Licht. Aber letztendlich ist es ja das, was Jesus sagt: "Ich bin das Licht der Welt" und "Ihr seid Kinder Gottes", "dir geschehe nach deinem Glauben". All diese Dinge, die ja Jesus sagt und die zugesprochen sind – wo ist das? Warum ist das nicht in den Menschen? Warum nehmen Burn-out, Depressionen und Ängste zu? Mir liegt es am Herzen, diese Erkenntnis weiterzugeben: Mensch, du hast das in der Hand, du entscheidest! Nicht so wie die Gemeinde, die dem Pfarrer an den Lippen hängt, "Sag mir, dass ich in Ordnung bin!" Es wird keiner kommen, der das sagt. Der einzige, der das tut, ist der, den die Christen Gott nennen – man kann auch sagen Energie oder das Göttliche, das Universum.

Wo sehen Sie da die Aufgabe der Kirche?

Streck-Plath: Die soll mal ihre Hausaufgaben machen! Unter den Leuten, die weglaufen von der evangelischen Kirche sind viele, denen es nicht spirituell genug ist. Bei dem ganzen staatlichen Gedöns um das Reformationsjubiläum, wissen Sie, was mich da so stört? Veröffentlichungen wie: "Mit Luther im Bett. Wären Sie gerne mit Luther verheiratet, Frau Käßmann?" Auf solchem Niveau finden teilweise Gespräche statt. Ich habe deshalb diesen Blog gegründet, apocaluther.de, wo ich im Oktober jeden Tag einen Text rund um das Thema "Bedingungslose Liebe – was bedeutet das, was ist das, was macht das mit uns?" gepostet habe.

Lässt es sich überhaupt mit Worten vermitteln? 

Streck-Plath: Ich habe bisher keinen einzigen Kommentar bekommen, und eine befreundete Theologin sagt: Es ist zu hoch und gleichzeitig geht es den Leuten zu tief. Das ist etwas, das sich dem Wissenschaftlichen entzieht. Das spirituelle Erleben des Menschen hat mit Doktorarbeiten, Professorat und Universitäten nichts zu tun. Es ist nicht einfach, solche Dinge zu wissen und zu erkennen, so ein Stück zu schreiben. Es ist ein sehr komplexes und langes Stück. Deswegen bin ich auch froh, dass es im Netz angeguckt werden kann. Wir haben den großen Film und einen Trailer.

Was soll – nach bisher zwei Aufführungen in Ihrer Gemeinde in Maintal – mit dem Stück "Apocaluther" passieren?

Streck-Plath: Ich habe es dem Kirchentag eingereicht, damit wir es da aufführen. Und es gibt das gedruckte Textbuch. Es wäre toll, wenn auch andere Gemeinden das Stück aufführten, denn es bewegt enorm viel innerhalb einer Gemeinde. Das halte ich für viel sinnvoller als wenn unsereins aus Maintal mit einem Zirkuswagen durch die Gegend fahren würde. Es ist ja auch zeitlos: Ob Luther dieses oder nächstes Jahr durchs Fenster steigt oder danach – völlig egal. Mich haben Lehrer angesprochen, die aus dem Stück Unterrichtseinheiten machen wollen. Die Zielgruppe sind aber eigentlich – außer im Unterricht – nicht Kinder. Es singt zwar ein Kinderchor, um die Leute emotional aufzubrechen, aber die Zielgruppe sind nicht Kinder, denn Kinder wissen das. Die Botschaft geht an die Erwachsenen: Passt auf, was ihr mit euren Kindern macht, und guckt auf euch!