Obdachlose müssen wieder auf der Straße schlafen

Foto: Frieder Blickle/laif
Viele Obdachlose in Hamburg schlagen ihr Lager draußen auf, zum Beispiel auf dem Universitätsgelände.
Obdachlose müssen wieder auf der Straße schlafen
Das Winternotprogramm endet
Bald liegen sie wieder in Schlafsäcken unter Brücken und Dachvorständen. Sie wohnen in kleinen Zelten im Gestrüpp der Grünstreifen neben den Hauptverkehrsstraßen. Ab 1. April ist die Straße für mehr als 800 Wohnungslose in Hamburg wieder bittere Realität. Grund: Das Winternotprogramm für Wohnungslose endet an diesem Tag. Der Großteil der Menschen muss wieder auf der Straße schlafen, sagt Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter der Straßenzeitung Hinz&Kunzt. Obwohl die Winterquartiere der Stadt im Sommer leer stehen.

Die Situation für die Wohnungslosen ist angespannt in der Hansestadt. Die Stadt stemmt das wohl größte Winternotprogramm der Republik. Jedes Jahr im April schließen die beiden Großquartiere, die nunmehr 800 bis 900 Menschen in der Nacht ein Bett im Trockenen bieten. Die Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt ist einer der Anlaufpunkte für Wohnungslose. Dort kennt man die Problematik. Seit einiger Zeit beobachten Sozialarbeiter eine zunehmende Verwahrlosung der Gestrandeten. Denn auch einfache Krankheiten können auf der Straße nicht auskuriert werden, sagt Karrenbauer, der seit 20 Jahren die Wohnungslosen begleitet.

Chris zum Beispiel hat sieben Jahre auf der Straße gelebt. Inzwischen hat der 44-Jährige wieder ein Dach über dem Kopf durch die Vermittlung von Hinz&Kunzt. Er verkauft die Obdachlosenzeitung und macht Stadtführungen durch seine Quartiere. Das Leben auf der Straße sei ein ständiger Überlebenskampf. "Deshalb betäuben sich viele mit Alkohol oder Drogen", sagt er. "Immer musst du aufpassen, dass dir nichts gestohlen wird oder dass du nicht angegriffen wirst." Gewalt auf der Straße und nächtliche Übergriffe von Partygängern seien Alltag für viele Obdachlose. Auch deshalb sei es wichtig, ein Dach über dem Kopf zum Schlafen zu haben, nicht nur im Winter.

Schlafplätze für Obdachlose sind rar

Das Problem ist vielschichtig. Seit Jahren fordert die Obdachlosenzeitung mehr Unterkünfte für Wohnungslose. Sie publizierten über die vielen leerstehenden Häuser, die verrotteten. Ordnungsgelder wurden verhängt, doch wenig passierte. Seit einigen Jahren hat sich das Bild der Obdachlosigkeit in der Hansestadt gewandelt. Neben der steigenden Verwahrlosung rutschen auch immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit ab. Birgit Müller, Chefredakteurin von Hinz&Kunzt, geht von 2.000 Wohnungslosen aus, die in Hamburg gestrandet sind. Aber es gibt keine Statistik. Von den rund 800 bis 1.000 Obdachlosen, die nun über den Winter nachts ein Dach über den Kopf hatten, haben 200 einen deutschen Pass. 800 sind EU-Obdachlose, vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien. Angeblich haben sie keinen Anspruch auf eine weitere Versorgung und Unterbringung. 2015 war die Situation besonders drastisch, da wurden Wohnungslose unter den Brücken und Unterständen vertrieben. "Da haben wir gefordert, bitte lasst die Menschen dort. Die haben sonst absolut keine Möglichkeit, irgendwo unterzukommen."

Auch das Diakonische Werk Hamburg ergreift Partei für die Wohnungslosen. Diakonie-Chef und Landespastor Dirk Ahrens sagt: "In Hamburg darf niemand gezwungen sein, die Nacht auf der Straße zu verbringen. Unfreiwillige Obdachlosigkeit bedroht elementare, vom Grundgesetz geschützte Rechte und gefährdet die geistige und körperliche Unversehrtheit." Hamburg sei wie jede Kommune zur Unterbringung obdachloser Menschen verpflichtet, ob es Sommer sei oder Winter, Tag oder Nacht. Die Diakonie unterstützt mit diversen Hilfsangeboten Wohnungslose - von Tagesaufenthaltsstätten, wo Wohnungslose duschen und waschen können bis zum Mitternachtsbus, der Decken und heiße Getränke an die Menschen vor Ort ausgibt.

Die Stadt indes sieht sich nicht in der Pflicht, die EU-Obdachlosen unterzubringen. Die Behörde für Arbeit und Soziales fürchtet eine "Sogwirkung" auf Menschen osteuropäischer Länder. EU-Obdachlose, die keine Sozialleistungen in Hamburg erhalten, hätten daher "auch keinen gesetzlichen Anspruch auf öffentlich-rechtliche Unterbringung", heißt es in der Erklärung der Behörde. 

Zu einem anderen Ergebnis kommt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) – ein Zusammenschluss von sieben Bundesverbänden von der Diakonie bis zur Arbeiterwohlfahrt. Sie haben in einem umfangreichen Rechtsgutachten ermittelt, dass Kommunen nicht nur eine Notunterkunft für EU-Obdachlose sommers wie winters stellen müssen, sondern dass diese auch tagsüber geöffnet sein müsste. "Doch welcher Wohnungslose hat das Geld und die Energie, sich einen Anwalt zu nehmen, um dieses Recht durch ein Gerichtsverfahren auch durchzusetzen?", fragt BAGW-Geschäftsführer Thomas Specht.

Obdachlose und Flüchtlinge nicht gegeneinander ausspielen

In Hamburg bekommt die Obdachlosenzeitung viel Rückenwind von Helfern und Spendern. Durch den Verkauf der Straßenzeitung erhalten viele Obdachlose wieder eine Struktur für den Tag. "Der Verkauf gibt ihnen die Möglichkeit, den Menschen wieder auf Augenhöhe zu begegnen – sie bekommen ihre Würde als Mensch zurück. "Als Obdachlose werden sie immer nur vertrieben und sind unerwünscht", erläutert der Sozialarbeiter von Hinz&Kunzt, Stephan Karrenbauer.

Weil Hamburg jetzt für Flüchtlinge viele Wohnungen bauen lässt und sich viele Menschen für diese Gruppe engagieren, schauen zahlreiche Augen auch darauf, wie sich die Obdachlosenzeitung positioniert. Doch Chefredakteurin Birgit Müller will die beiden Gruppen nicht gegeneinander ausspielen. "Die Flüchtlinge nehmen uns nichts weg", sagt sie. Doch sie gibt zu, dass es manchmal bitter sei: "Anhand der Flüchtlinge wird deutlich, was möglich sei, wenn eine Stadt richtig Gas gibt." Sie hofft, dass "die Stadt auch für Obdachlose mal so richtig Gas gibt, so wie sie es für viele andere Gruppen auch tut".