"Die Bibel sagt unmittelbar gar nichts"

Alte Bücher stehen in einem Regal in der Bibliothek des Tübinger Stifts
Foto: epd-bild / Gerhard Bäuerle
Die Bibel verstehen ohne historisch-kritische Auslegung - geht das?
"Die Bibel sagt unmittelbar gar nichts"
"Historische Kritik ist die Grundlage allen historischen Denkens und Arbeitens"
Der bekannte evangelikale Prediger Ulrich Parzany hat in einem "Memorandum" unter anderem gefordert, die historisch-kritische Bibelauslegung "zu überwinden", vor allem auch im Hinblick auf die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern. Prof. Angela Standhartinger lehrt an der Marburger Philipps-Universität Neues Testament. evangelisch.de hat sie zu dieser These befragt.

Ulrich Parzany behauptet, dass die historisch-kritische Bibelauslegung der Tatsache nicht gerecht würde, dass die Bibel "Gottes Wort und Urkunde seiner Offenbarung" sei. Würden Sie dem zustimmen?

Angela Standhartinger: Die Bibel ist nicht insofern Gottes Wort, als sie von Gott diktiert oder vom Himmel gesandt worden wäre - das unterscheidet die Bibel zum Beispiel vom Koran. Sondern die Bibel vermittelt in vielstimmigen menschlichen Worten das, was Menschen an ihren jeweiligen Orten vom Wort Gottes und seinen Wirkungen in ihrem Leben erlebt und erfahren haben. Die Bibel ist also nicht identisch mit der Offenbarung, sondern Zeugnis von Offenbarungserfahrungen. Da diese Zeugen schon 1800 bis 2500 Jahre vor uns gelebt haben, in antiken Sprachen schrieben und eine uns fremde Kultur voraussetzen, muss jede und jeder, um die Bibel überhaupt lesen und verstehen zu können, auf historisch-kritische Auslegungen zurückgreifen.

Kritisch muss jede Auslegung sein, weil sie unterscheiden muss zwischen Wichtigem und Unwichtigem und manchmal auch zwischen historisch plausiblen und weniger plausiblen Informationen. Zum Beispiel dort, wo Evangelien unterschiedliche Aussagen zur Biografie Jesu machen. Jede Auslegung muss aber auch kritisch unterscheiden, ob die Liebe der Nächsten (z. B. Mk 12,28-34; Gal 5,14) ohne menschliche Vorurteile und die Integration der Deklassierten und Ausgestoßenen (z. B. Mk 2,15-17 u. ä.) die zentrale biblische Botschaft ist, oder die Behauptung "Weichlinge" und solche, die mit Männern auf eine weibliche Weise Geschlechtsverkehr haben, könnten das Reich Gottes nicht erben (1. Kor 6,9).

Muss man also biblische Texte auf jeden Fall auslegen? Können diese Texte nicht für sich selbst sprechen?

Standhartinger: Die Bibel sagt unmittelbar gar nichts, sondern sie braucht immer Übersetzung und Interpretation. Es ist ein gutes protestantisches Prinzip, dass alle Glaubenden zu dieser Interpretation befugt und befähigt sind. Es geht nicht an, dass einzelne, seien sie Predigerinnen oder Prediger, Professorinnen oder Professoren, Pfarrerinnen oder Pfarrer, Prophetinnen oder Propheten, dieses Recht für sich allein beanspruchen.

Ulrich Parzany fordert weiterhin, dass es ein Ende haben müsse, dass die historisch-kritische Bibelauslegung in der Ausbildung der Pfarrer eine beherrschende Rolle spiele. Ist das überhaupt so? Und wenn ja - aus welchem Grund?

Standhartinger: Hier fällt mir zunächst die Rhetorik auf, die historisch-kritisch analysiert, indem sie sich an die Form des Barmer Bekenntnisses von 1934 anlehnt. Es wird aber keine Rechenschaft über die Form abgelegt. Möchte Parzany mit dieser Rhetorik vermitteln, es bestünde größte Gefahr für die Kirche? Wen ja, worin besteht die Gefahr? In einer Übernahme durch kirchenfremde Mächte, wie 1934? Wer soll das heute sein? Da Parzany dazu nichts sagt, kann man hier nur Vermutungen anstellen.

Ähnlich geht es mir auch mit der Forderung nach Abschaffung der historischen Kritik in der Ausbildung. Historische Kritik ist die Grundlage allen historischen Denkens und Arbeitens. Sie wird mindestens in den Fächern Altes Testament, Neues Testament und Kirchengeschichte geübt, aber natürlich auch überall dort, wo Systematik, Praktische Theologie oder Religionsgeschichte historisch fragen. Angesichts des Priester_innentums aller Glaubenden ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer sowie die Lehrerinnen und Lehrer gelernt haben, wie Übersetzungen zustande kommen und wie man die Texte im Kontext ihrer Entstehungskultur verstehen kann: Was man weiß und was man auch nicht weiß. Nur so können sie auf Fragen reagieren und in Konflikte (wie den hier beschriebenen) Positionen kritisch differenzieren und eigene abgewogene und begründete Positionen beziehen.

Mir ist außerdem völlig unklar, warum und wie man die historisch-kritische Methodik "abschaffen" sollte. Erst im zweiten Satz von Parzanys These kann man erahnen, worum es hier möglicherweise geht: Was Parzany vermutlich ärgert, ist die historisch-kritisch begründete Meinung, dass Texte wie Röm 1,26f eine antike Sexualitätskultur voraussetzen, die sich von der gegenwärtigen unterscheidet. Was ihn möglicherweise aber noch mehr ärgert, ist der aus diesen historisch-kritischen Beobachtungen und Erkenntnissen gezogene hermeneutische Schluss, dass man (angesichts der kulturellen Unterschiede und vor allem auf Grund der biblischen Botschaft der Nächstenliebe und Akzeptanz, ja sogar Privilegierung des und der Anderen und Anderssartigen) diese Texte nicht als zeitlose Gebote auffassen kann und darf, sondern als kontextuell und kulturell gebundene und daher zu übersetzende Texte. Die historisch-kritische Methode zieht den Schluss nicht, sie liefert nur Argumente und Einsichten, damit wir die Texte aus uns fremden Kulturen besser verstehen. Damit jede und jeder aber die eigenen, vor Gott und dem eigenen Gewissen zu verantwortenden hermeneutischen Entscheidungen und Schlüsse ziehen kann, braucht es unbedingt die historisch-kritische Methode in kirchlichen und universitären Ausbildungsgängen einschließlich kirchlicher Ehrenämter.

"Die historisch-kritische Methode zieht den Schluss nicht, sie liefert nur Argumente und Einsichten"

Welchen Stellenwert sollte denn Ihrer Meinung nach die historisch-kritische Methode in der theologischen Ausbildung überhaupt haben und welche alternativen Schwerpunkte gäbe es noch?

Standhartinger: Wie eben schon erwähnt, bildet sie eigentlich die Grundlage. Ich halte auch nichts davon, "historisch-kritische" Methodik auf bestimmte historische Fragen einzugrenzen. Einen antiken Text und jedes andere historische Phänomen kann man nur mit historischen und das heißt auch immer kritisch-unterscheidenden Methoden begreifen. Das schließt literaturwissenschaftliche Methoden ausdrücklich ein, aber auch sie werden ja an einem historischen Text angewendet.