Die vierte industrielle Revolution

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Die vierte industrielle Revolution
"Industrie 4.0" ist in der Kirche angekommen. Unter dem programmatischen Titel: "Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt" hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am 28. April eine Denkschrift zum Thema Arbeit veröffentlicht. "Industrie 4.0" könnte aus dem Wandel eine Revolution machen.

3D-Drucker statt Werkbank, Kommunikation zwischen intelligenten Maschinen statt zentraler Steuerung, ein Netz virtueller "Workplaces" statt Arbeitsplätzen im Betrieb. Noch ist die digitale Revolution vor allem eine vage Vision. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sie zur Chefsache gemacht: Auf der Hannover-Messe startete er offiziell die "Plattform Industrie 4.0" ‑ eine konzertierte Aktion von Politik, Unternehmen und Gewerkschaften. Mit dieser Plattform will die schwarz-rote Bundesregierung "die Chancen der Digitalisierung der Wirtschaft aktiv nutzen". Heute würden wichtige Grundlagen für den "Wettlauf um die Produkte und die Märkte von morgen" gelegt, sagte Gabriel. Deutschlands Wirtschaft solle auch zukünftig die Fabriken der Welt ausrüsten.

Kanzlerin Angela Merkel hatte bereits im Februar das Elektronikwerk von Siemens im bayerischen Amberg besucht. Industrie 4.0 "live"! Siemens produziert dort in einer Atmosphäre wie in einem Operationssaal Steuerungsinstrumente für Bordsysteme auf Kreuzfahrtschiffen oder für die Autoproduktion. "Die Fertigung funktioniert weitgehend automatisiert", erklärte ein Siemens-Sprecher. Nur am Fertigungsbeginn wird das Ausgangsbauteil, eine unbestückte Leiterplatte, noch von menschlicher Hand berührt – ein Mitarbeiter legt es in die "Produktionsstraße".

Eine 4.0-Miniwelt findet sich auch in Kaiserslautern. Im Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz wurde eine Füllanlage aufgebaut. Der Clou: Das Produkt "sagt" der Maschine, was es tun soll! Möglich macht dies ein RFID-Chip ("Radio-Frequency Identification"), der über das Internet gesteuert wird. So kann jede Flasche mit anderen Flüssigkeiten gefüllt werden. Angewendet auf eine industrielle Produktionsstraße hieße dies: "Industrie 4.0 macht eine Multivariantenfertigung auch in kleinsten Losgrößen wirtschaftlich darstellbar."

Dabei sind die meisten Techniken für die laut Bundesregierung "vierte industrielle Revolution" eigentlich lange bekannt. So sind die Kaiserslauterer RFID-Chips in großen Warenlagern längst im realen Einsatz. Doch aus solchen Inseln soll eine total vernetzte Weltwirtschaft werden, die von der Rohstoffförderung bis zum Endverbraucher reicht. Noch fehlen internationale Standards und erst jedes zehnte deutsche Industrieunternehmen ist laut der Unternehmensberatung Roland Berger auf dem Weg zur großen digitalen Transformation.

Massenproduktion wieder in Deutschland?

"Individualisierung" von Konsum und Produktion und "Optimierung" der Logistikketten sind Schlüsselbegriffe, mit denen Ingenieure, Manager und Forscher ihr Tun umschreiben. Bis 2030 wollen Hersteller in der Lage sein, aus einer Idee in einem Bruchteil der heute notwendigen Zeit ein fertiges Endprodukt zu entwickeln. Selbst komplexeste Fertigungsprozesse werden dann in der virtuellen Welt entworfen und getestet.

BDI-Boss Ulrich Grillo sieht ganz neue Chancen: "Vielleicht können wir sogar die nach Fernost abgewanderte Massenproduktion zurückholen", hofft der Industriepräsident. Denn mit der Weiterentwicklung etwa des 3D-Drucks verliere der Anteil hoher Löhne an den Produktionskosten an Bedeutung.

Andere hoffen, Arbeit werde anspruchsvoller, aber auch interessanter. Oder das Landleben könne mit den Möglichkeiten der Stadt gleichziehen. Regierungsberater und Bestsellerautor Jeremy Rifkin träumte auf der Computermesse Cebit gar vom Ende des Kapitalismus. Dank einer vollautomatischen Produktion brauche es keine Konzerne mehr. Genossenschaftliches, "kollaboratives Gemeingut" trete an die Stelle des Privateigentums an den Produktionsmitteln.

Bontrup: Wer die neue Arbeitswelt steuern will, übernimmt sich

Doch für die Arbeitswelt verheißt das nicht nur Gutes. "Globalisierung, dichtere Vernetzung und Digitalisierung haben tiefe Spuren hinterlassen. Dieser Wandel ist von großer Ambivalenz gekennzeichnet", sagte Gustav A. Horn zur Vorstellung der EKD-Denkschrift in Frankfurt. Horn leitet das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und ist Vorsitzender der EKD-Kammer für soziale Ordnung. "Auf der einen Seite entstehen durch neue Technologien mehr Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten", so Horn. "Auf der anderen Seite erzeugt die Flexibilisierung prekäre und entgrenzte Beschäftigungsverhältnisse."

Vor politischen Illusionen warnt der Arbeitsmarktexperte Professor Heinz-J. Bontrup Minister Gabriel. Der Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sagt: "Wer Industrie 4.0 im Kapitalismus steuern will, übernimmt sich." Wenn das Konzept wirklich so komme, wie es Visionäre planten, werde für jeden einzelnen Mitarbeiter pro Kopf mehr Wertschöpfung erzielt. Dann benötige die Wirtschaft weniger Arbeitskräfte. Bontrup: "Ohne Arbeitszeitverkürzung wird das alles gesellschaftlich ganz grausam werden."

Bedächtiger ist man bei der IG Metall. Bereits in den siebziger Jahren war eine "Polarisierung" der Arbeitswelt erwartet worden: in wenige Spezialisten und wenige Hilfsarbeiter. Es kam anders. Heute gibt es mehr Jobs in Deutschland als jemals zuvor und die "Mitte" ‑ Facharbeiter und Handwerker ‑ kann sich vor Aufträgen kaum retten. "Wir brauchen einen Neustart in arbeitspolitischer Perspektive", fordert IGM-Vize Jörg Hofmann. Eine neue Humanisierungsoffensive benötige das Land - bevor Industrie 4.0 wahr werde.

Auch der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm mahnte bei der Vorstellung der Arbeits-Denkschrift, beim Wandel in der Arbeitswelt nicht aus den Augen zu verlieren, was für die Menschen gut ist: "Nicht das rastlose Tätigsein als solches ist das Ideal des Christlichen, sondern die sinnvolle Einbeziehung aller Menschen in eine Wirtschaft, die mit allen geschieht."