Im Schatten Japans: Politstreit und schwäbischer Protest

Im Schatten Japans: Politstreit und schwäbischer Protest
Noch immer weiß niemand, wie viele Menschen bei der Erdbeben- und Flutkatastrophe in Japan gestorben sind und welche Folgen eine mögliche Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima haben würde. Nichtsdestotrotz hat in Berlin bereits der Streit über die Konsequenzen aus der Reaktorkatastrophe begonnen. Und in Baden-Württemberg reichen sich die Atomkraftgegner die Hand: Sie bildeten am Samstagmittag eine Menschenkette von Stuttgart bis zum Atomkraftwerk Neckarwestheim. Zu der Aktion, die lange vor den tragischen Ereignissen in Japan geplant wurde, kamen weit mehr Menschen als erwartet, rund 60.000.60.000 Menschen nahmen teil, deutlich mehr als erwartet.

"Abschalten!" schallt es immer wieder über den Stuttgarter Schlossplatz. "Mappus weg!"-Rufe sind zu hören. Schulter an Schulter reihen sich Atomkraftgegner von der Villa Reitzenstein, dem Sitz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU), bis ins 45 Kilometer entfernte Neckarwestheim, dem Standort zweier Atommeiler. Doch die meisten der zehntausenden Teilnehmer der Menschenkette gegen Atomkraft halten angesichts der Nachrichten und Bilder aus Japan lieber inne.

Bis vor wenigen Stunden hatten sie noch gedacht, gegen eine vergleichsweise abstrakte Gefahr zu demonstrieren. Doch nun findet die Menschenkette, die schon seit Monaten geplant ist, parallel zum Atomunglück im japanischen Fukushima statt. Mit bis zu 40.000 Teilnehmern hatten die Organisatoren gerechnet - gekommen sind unter dem Eindruck der Ereignisse in Fernost 60.000 aus ganz Deutschland. "Wir könnten teilweise auch zweireihig stehen", meldet ein Teilnehmer aus Kirchheim am Neckar auf dem Liveblog des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND).

"Jeder Meter zählt"

Auf dem Stuttgarter Schlossplatz bilden sich lange Schlangen an Ständen, an denen grüne und gelbe Luftballons mit der roten Atomsonne ausgegeben wurden. Viele Demonstranten halten schwarz-gelbe Bänder in den Händen. "Jeder Meter zählt" - so hatten die Veranstalter von diversen Verbänden und Anti-Atom-Gruppen zuvor für eine Teilnahme geworben. In einem Werbespot hatten Junge, Alte, Hausfrauen und Geschäftsleute ein Meter langes Band in die Kamera gehalten.

Unter den Demonstranten (Foto: dpa) sind auch zahlreiche Politiker, vor allem von den Grünen und der SPD. «Das Abschalten von Neckarwestheim war schon vor der Katastrophe in Japan angesagt», sagt der Grünen-Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 27. März, Winfried Kretschmann. Ob der Unfall zwei Wochen vor dem Urnengang seiner Partei Auftrieb geben werde, wollte er nicht beurteilen. "Ich glaube, solche Gedanken sollte man bei so einer Katastrophe nicht haben. Es ist heute ein Tag der Trauer und Sorge", so Kretschmann.

"Eine Regierung, die die Sicherheit der Bevölkerung ignoriert, ist in diesem Bundesland angezählt", ruft Christoph Bautz von der Organisation campact bei der Abschlusskundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz unter lautem Applaus. Nikolaus Landgraf, Landesvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGV), sagt: "Der Tsunami in Japan muss auch unsere Atomparteien treffen. Wir brauchen bei der Wahl ein politisches Erdbeben." Er rief die Menschen auf, am 27. März in Baden-Württemberg den Atomausstieg zu wählen.

Karten im Wahlkampf werden neu gemischt

Tatsächlich sieht es so aus, als würden nach dem Tsunami in Japan und dem Atomreaktorunfall in Fukushima Daiichi die Karten im Wahlkampf in Deutschland neu gemischt. Die Bilder der Explosion in der Anlage gehen um die Welt und jeder wird mit einem Schlag daran erinnert: Selbst die sichersten Atomanlagen der Welt sind gegen solche Gewalten nicht gefeit. Anders als bei Tschernobyl vor 25 Jahren wird die Welt durch Livebilder wie am 11. September 2001 Zeuge der Katastrophe. Die meist unsichtbare Gefahr der Kernenergie wird Milliarden Menschen vor den Fernsehschirmen vor Augen geführt.

Mit Blick auf notwendige Nachrüstungen der Atomkraftwerke und deren unzureichenden Schutz gegen Passagierflugzeuge stehen der Regierung unangenehme Wochen bevor. All im Herbst geäußerten Argumente gegen die längeren Laufzeiten, die die Betriebszeiten der ältesten Reaktoren auf fast 50 Jahre erhöhen, finden auf brutale Weise eine Bestätigung. Die Fraktionschef der Grünen im Europarlament, Rebecca Harms, sagt: "Die Erdbebentragödie zeigt Grenzen der Beherrschbarkeit der Atomtechnik auf."

Kampf gegen Laufzeitverlängerung

Der Höhenflug der Grünen mit bundesweiten Werten weit über 20 Prozent speiste sich 2010 vor allem aus dem Kampf gegen die Laufzeitverlängerung. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und am gleichen Tag in Rheinland-Pfalz gelten als Nagelprobe für Schwarz-Gelb, entsprechend groß ist die Nervosität. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagt, eine politische Diskussion in Deutschland sei angesichts der akuten Notlage Japans unangemessen. "Ich halte das, um es ganz zurückhaltend zu sagen, für völlig deplatziert". Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) betont: "Jetzt geht es nicht um einen parteipolitischen Streit in Deutschland, der kann warten. Aber die Hilfe für die Menschen, die kann nicht warten.

Ein anderer führender FDP-Mann gibt aber bereits offen zu: "Das macht den Wahlkampf nicht unbedingt leichter." Denn das Atomthema polarisiert und Union und FDP müssen sich von der Opposition vorwerfen lassen, mit fragwürdigen Gründen den durch den rot-grünen Atomausstieg befriedeten Konflikt wieder aufgebrochen zu haben.

Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs (CDU), einer der lautesten Verteidiger der Kernenergie im politischen Berlin, sagt in der "Welt am Sonntag": "Es ist nicht berechtigt, aus den Ereignissen in Japan Rückschlüsse auf die Nutzung der Kernenergie in Deutschland zu ziehen." In Japan gebe es ganz andere tektonische Gefahren als in Deutschland. Aber natürlich müsse man nun davon ausgehen, "dass von interessierter Seite versucht wird, die ganz anderen Verhältnisse in Japan für eine neue Debatte über die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke zu nutzen".

Trittin: Keine Zeit für Rechthaberei

Auch Umweltschützer, SPD, Grüne und Linke betonen, zuallererst müsse jetzt an die von dem möglichen Super-GAU betroffenen Menschen gedacht werden. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sagte "Spiegel Online", es sei jetzt "keine Zeit für Rechthaberei". Im gleichen Atemzug betont er aber, es stehe fest, dass auch in Deutschland Atomanlagen stünden, "die genau diesen Störfall nicht beherrschen". Neckarwestheim etwa sei "nicht ausreichend gegen eine Kernschmelze abgesichert und liegt in einem Erdbebengebiet". Zwar wird von der "Atomkraft - nein danke"-Fraktion betont, solche Erdbeben drohten hier nicht, es gehe aber auch um das generelle Restrisiko, wie eben Flugzeugabstürze.

Reiner Baake, Geschäftsführer Deutsche Umwelthilfe (DUH) betont: "Die unfassbare Aktualität" der Massenproteste in Baden-Württemberg habe man sich nicht gewünscht. Fünf Reaktorblöcke an den benachbarten Atomkraftwerks-Standorten Fukushima I und II seien außer Kontrolle. Dass die japanische Atomaufsichtsbehörde sich nicht sicher sei, ob bereits eine Kernschmelze begonnen habe, zeige die ganze Dramatik der Situation.

"Nach Russland (Majak, 1957), den USA (Harrisburg, 1979), der Ukraine (Tschernobyl, 1986) ist nun Japan das nächste Land, in dem sich die nukleare Katastrophe realisiert, die nie passieren darf", so Baake. Es sei besonders schmerzlich, auf diese Weise mit all den Mahnungen Recht behalten zu haben. Das Deutsche Atomforum ist um Schadensbegrenzung bemüht und ruft zu einer sachlichen Debatte auf. "Eine Verkettung eines derart schweren Erdbebens und eines schweren Tsunamis ist in Deutschland nicht vorstellbar", sagt Sprecher Dieter Marx. Die deutschen Kernkraftwerke seien so ausgelegt, "dass die Schutzziele auch bei starken Erdbeben eingehalten werden".

dpa