Beflügelnd

Beflügelnd
Was, wenn man Engel nicht nur an Flügeln erkennt?

Ein bisschen war es wie Schäfchenzählen. Damals, im knarzenden Kajütenbett bei meinen Großeltern. Nach zwei Geschichten aus dem Vorlesebuch, betete meine Oma mit leiser Stimme für mich: „Abends, will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn. Zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen, zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken…“ und mit jedem Engel, den sie mehr aufzählte, wurden meine Lider schwerer. Das ist nun viele, viele Jahre her und lange habe ich nicht mehr an dieses Zu-Bett-Geh-Ritual gedacht, an dieses alte fromme Gebet, das in der Oper „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck als Lied zu hören ist. Wohl auch, weil es mir schwer fällt, an Engel zu glauben – jedenfalls an pausbäckige Putten mit Flügeln und Flitterhaaren.

Aber neulich, da kam mir plötzlich der Gedanke, dass sie vielleicht nie wirklich weg waren, diese mindestens 14 Engel, „die mich weisen, zu Himmels-Paradeisen“. Ich hatte sie bloß nicht immer als solche erkannt. Denn auch, wenn ich sie nicht jeden Abend in mein Bett eingeladen hatte, gab und gibt es da welche, die mich „decken und wecken“, mich beschützen und bestärken, meinen Weg begleiten, meinen Weg bereiten. Engel, allermeistens in Menschengestalt, die es auch ohne Flügel vermögen, zu beflügeln.

Ich muss nicht mal lange nach ihnen Ausschau halten. Sie begegnen mir einfach so. Ich glaube, sie sind Verwandlungskünstler.

Denn da ist der Engel der Ahnung und der Engel der Warnung. Eine, die verheißungsvoll flüstert: „Da kommt noch was“ und einer, der warnt und mahnt: „Gib gut auf dich acht.“  

Da ist der leise Engel und der weise Engel. Eine, mit der Schweigen nie peinlich ist und einer, dem es gelingt, in meinem Kopf ein Fenster zu öffnen. Die Aussicht daraus ist unendlich weit.

Da ist der Trost-Engel und der Trotz-Engel: Eine, die weiß, wie ich mich fühle, noch bevor ich es selbst weiß und die da ist, einfach da. Und einer, der aus meinen Fragezeichen Ausrufezeichen macht, trotzig tönend: „Jetzt erst Recht!“

Da ist der versteckte Engel und der entdeckte Engel. Einer, der sich samtig an mein Leben schmiegt, spürbar nur an manchen Tagen und eine, die sich einfach nicht leugnen lässt. Sie hinterlässt Spuren, die bleiben.

Da ist der Schutz-Engel und der Stups-Engel. Einer, der mir die Hand zum Abschied kurz auf die Schulter legt und einen Segen spricht und eine, die meiner Mutlosigkeit ein „Los, trau dich!“ entgegensetzt. Sie geben meinem Herzen einen Schutz und einen Stups.

Da ist der Engel, der tanzt und der Engel, der pflanzt. Eine, deren Lebenslust ansteckend ist und einer, in dessen Garten Apfelbäume wachsen. Und Hoffnung. 

Und da ist der Engel, der sehnt und der Engel, der sucht. Einer, der nach „mehr“ fragt und einer, an dem manchmal der Zweifel nagt. Sie gehen häufig Hand in Hand und nehmen mich in ihre Mitte.

14 Engel, mindestens. Ich muss nicht mal lange nach ihnen Ausschau halten. Sie begegnen mir einfach so. Ich glaube, sie sind Verwandlungskünstler. Sie verwandeln Gottes Wort in Leben.

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