22 Stunden. So lang dauerte der „Orgelmarathon“ am Reformationstag und durch die Nacht hindurch bis Allerheiligen. Der Thomas-Organist Johannes Lang spielte in dieser Zeit alle 235 Orgelwerke, die der berühmteste Kantor der Kirche, Johann Sebastian Bach (1685-1750) je geschrieben hatte, bzw. die von ihm überliefert sind.
Das Konzert war in 14 etwa 70- bis 80-minütige Abschnitte unterteilt, die nach und nach durch das gesamte Kirchenjahr führten. Zwischendurch kurze Pausen für Essen, Trinken, Toilette und – ganz wichtig – Physiotherapie. Dass ausgerechnet die Trinitatiszeit, die jetzt nicht so richtig von festlichen Höhepunkten geprägt ist, dabei mitten in die Nacht fiel, war vermutlich nur Zufall.
Dabei gab es nicht nur was fürs Ohr, sondern auch für die Augen: Fünf renommierte Ballett-Ensembles, darunter das Semperoper Ballett, setzten die Orgelmusik in Tanz um. Zwischendurch wurden Livebilder der Erde aus der ISS eingeblendet. Kameras begleiteten sechs internationale bildende Künstler, sich von den Klängen inspirieren ließen und live neue Kunstwerke schufen.
„Gravity Bach“ nannte sich das Projekt. Johannes Lang hatte schon seit Jahren von einer solchen Aktion geträumt. Ihm war es wichtig zu zeigen: Die Musik von Bach verbindet Menschen über die ganze Welt hinweg. Ein Jahr lang hatte er sich darauf vorbereitet. Manche Stücke kann man als Thomasorganist natürlich im Schlaf – andere kommen eher selten zum Einsatz und brauchen einige Übung. „Für mich war das wunderbar, weil man so tief eintaucht in diese Musik und die Vielschichtigkeit seines Orgelwerks“, meinte Lang dazu.
Etwa 50 Menschen sollen das Konzert von Anfang bis Ende besucht haben. Arte hat es zudem live übertragen. Auf der Arte-Homepage ist es sowohl als Komplett-Stream zu finden wie auch in einzelnen Teilen sowie in einer etwa 90-minütigen Zusammenfassung.
Wirklich eine schöne Sache, doch mich beschäftigt eigentlich etwas anderes, seit ich von dieser Aktion hörte. Mir kam gleich dieser Satz aus dem Propheten Amos in den Sinn, der natürlich einen anderen Bach meint: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ (Amos 5,25)
Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen. Keine Unterdrückung. Kein Leid. Kein Hunger. Keine Einsamkeit: Eine der zentralen Forderungen vieler Propheten des Alten Testaments, zusammengefasst in dieser Formel: Recht und Gerechtigkeit. Hier wettert der Prophet Amos über die ungerechte Gesellschaft seiner Zeit und sagt: Ihr braucht überhaupt keine Gottesdienste zu feiern und gar nicht so zu tun, als wärt ihr fromm – solange es Menschen um euch herum so schlecht geht, ist das alles vor Gott gar nichts wert. Auch die Musik braucht’s dann nicht. Amos ist da ganz klar, direkt vor unserem Satz: „Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“
22 Stunden dauerte das Bach-Konzert. Ein irgendwann dann doch versiegender Johann Sebastian Bach. Ich werde den Gedanken nicht los: Wie sähe unsere Welt aus, wenn wir das schaffen würden, wenigstens für 22 Stunden: Recht und Gerechtigkeit für alle. Keine Einsamkeit. Kein Hunger. Keine Unterdrückung. Keine Vertreibung. Keine Gewalt. Keine Kriege.
Vielleicht würden schon 22 Stunden unsere Welt für immer verbinden und sie verändern. Vielleicht trägt ja sogar dieses Bach-Konzert ein wenig dazu bei. Ich gebe die Hoffnung nicht auf.




