Online-Gemeinde - geht das eigentlich?

Online-Gemeinde - geht das eigentlich?
Die Corona-Krise hat die Frage aufgeworfen: Was ist eigentlich ein „richtiger“ Gottesdienst?

„Die Gottesdienste fallen nicht aus. Sie finden nur nicht in der Kirche statt.“ So oder so ähnlich lautete die Botschaft in vielen Kirchengemeinden, als klar wurde: Wir werden uns für etliche Wochen, auch an Ostern, nicht in den Kirchen treffen und Gottesdienst feiern können.

Erst langsam wurde uns allen bewusst, was das alles bedeutet. Erst nach und nach merkten wir: Das wird was Längeres und ist nicht gleich nach Ostern wieder vorbei. Neue Formen entwickelten sich überall. Vorab aufgenommene Video- oder Hörgottesdienste, live gestreamte Formen, Telefonandachten, Lesepredigten, die in den Briefkästen verteilt wurden oder in der Kirche auslagen. Besondere Stationen in der Kirche und anderswo luden zum Nachdenken ein. Altäre in der Kirche waren passend zum Sonntagsthema die ganze Woche geschmückt. Und vieles, vieles mehr.

Immer wieder mal hörte ich die Frage: „Ist das denn ein richtiger Gottesdienst?“ Erstaunlich viele treibt diese Frage um: Was ist sozusagen „gültiger“ Gottesdienst, was nicht? Welche Formen können wir nutzen, welche nicht? Darum lade ich Sie zu einem kleinen Gedankenexperiment ein: Zu einem besonderen Gottesdienst im Jahr 2030. Mag sein, dass es dann gar kein Facebook mehr gibt oder kein Twitter oder was auch immer. Doch wir tun mal so, als wären die technischen Gegebenheiten so wie heute, nur die Gottesdienst-Teilnahme hat sich in den letzten zehn Jahren deutlich verändert.

Stellen Sie sich vor: Es ist Partnerschaftssonntag im Evangelisch-Lutherischen Dekanat Schweinfurt, das ich nun mal besonders gut kenne – der Ort ist eigentlich aber völlig egal. Alle 27 Kirchengemeinden des Dekanats feiern einen gemeinsamen Gottesdienst mit ihren fünf Partnergemeinden in Rio de Janeiro. In allen Kirchen hängen Videoleinwände, über eine Zoom-Videokonferenz sind alle miteinander verbunden. Simultanübersetzer übertragen die Texte aus dem Portugiesischen ins Deutsche und umgekehrt. An über 30 Orten ist also Gemeinde vor Ort über die Technik miteinander verbunden – doch nicht nur das: Der Gottesdienst wird selbstverständlich auch auf Facebook und Youtube gestreamt. Das deutsche und das brasilianische Lokalfernsehen überträgt den Gottesdienst live, ebenso die örtlichen Radiostationen. Auch am Telefon kann man dem Gottesdienst folgen. Außerdem gibt es eine Twitterwall, auf der Menschen ihre Gedanken zum Gottesdienst beisteuern können. Viele haben sich zu Hause eine Kerze angezündet, sich Zeit genommen, diesem Gottesdienst beizuwohnen.

Schon die ganze Woche über gab es in den verschiedenen Kirchen Möglichkeiten, sich zu beteiligen. An Stellwänden waren die Menschen eingeladen, ihre Gedanken zum Thema des Gottesdienstes beizutragen. Ebenso natürlich, ihre Gebetsanliegen aufzuschreiben.

Ein Pfarrer in Rio eröffnet den Gottesdienst. Zum Gemeindegesang trennen sich die Gruppen aus praktischen Gründen in eine deutsche und eine brasilianische, jeweils begleitet von der Orgel der Hauptkirche. Eine ehemalige Kirchenvorsteherin, die sich jahrzehntelang für die Partnerschaft eingesetzt hat und nun in den USA wohnt, liest das Evangelium in ihrem Garten stehend. Man hört die Vögel im Hintergrund zwitschern. Die Predigt halten eine Pfarrerin aus Rio und ein Pfarrer in Schweinfurt im Dialog. Dabei nehmen sie spontan Kommentare der Menschen auf, die diese via Facebook, Twitter und auch WhatsApp beisteuern – oder an den Mikrofonen in den Kirchen. Auch die Gedanken der Menschen, die in der Woche davor etwas aufgeschrieben haben, werden berücksichtigt. Eine fröhliche, weltumspannende Gemeinschaft entsteht, ein Bewusstsein dafür: Wir gehören zusammen, auch wenn wir an verschiedenen Orten feiern.

Völlig natürlich, dass so eine Gemeinschaft auch durch ein gemeinsames Abendmahl gestärkt werden soll. Ein weiterer Pfarrer aus Rio spricht den ersten Teil der Einsetzungsworte. Eine Pfarrerin einer kleinen Dorfgemeinde in Deutschland den zweiten Teil. Überall in den Gemeinden werden Brot und Wein feierlich und würdevoll gereicht. Auch die Menschen zu Hause, die dem Gottesdienst via Stream, Fernsehen, Radio oder Telefon folgen, nehmen Brot und Wein oder Traubensaft zur Hand. Wo mehrere gemeinsam sitzen, reichen sie es sich gegenseitig. Überall ist spürbar: Jesus ist mitten unter uns. In Brot und Wein ist er gegenwärtig. Der große Gospelchor einer deutschen Gemeinde begleitet die Feier mit mitreißenden Gesängen.

Eine Taufe schließt sich an. Wegen einer schweren, unheilbaren Krankheit der Mutter hat sich die Familie entschlossen, gemeinsam zu Hause zu bleiben und über Videokonferenz am Gottesdienst teilzunehmen. Die Patin musste leider kurzfristig beruflich nach Japan fliegen, ist aber ebenfalls über Video dabei. Der Gemeindepfarrer spricht aus seiner Kirche heraus die Taufformel, während der andere Pate im Wohnzimmer der Familie der kleinen Josefine Wasser über den Kopf gießt. Alle Teilnehmenden in allen Gemeinden sind zutiefst ergriffen von diesem intensiven Moment. Spontan fangen die Gemeindeglieder in einigen der zugeschalteten Kirchen an zu klatschen. Die Freude springt über. Der Gospelchor nimmt die Freude auf, singt ungeplant „oh happy day“. Über die ganze Welt verstreut, singen die Gemeinden mit – ein bisschen chaotisch, aber vor allem fröhlich, freudig, ja überbordend vor Freude.

Für die Fürbitten blendet die Kamera von einer Kirche zur anderen. Eine Fürbitte auf Deutsch, eine auf Portugiesisch. Auch mal eine auf Farsi, denn durch die Asylbewerber hat sich in Schweinfurt eine kleine iranisch-afghanische Gemeinschaft gebildet. Jemand, man weiß nicht genau wer, steuert via Twitter eine Fürbitte bei in einer Sprache, die niemand kennt. So gut es geht, liest sie jemand vor im Vertrauen darauf, dass Gott schon weiß, was gemeint ist. Etliche der Gebete von der Gebetswand werden vorgelesen, alle anderen wird das Gottesdienst-Team später im kleinen Kreis noch einmal lesen und vor Gott bringen.

Das Vaterunser beten alle in ihrer Sprache, räumlich getrennt und doch gemeinsam. Den Segen gibt es zweimal – einmal auf Deutsch, einmal auf Portugiesisch. Ein festliches „Nun danket alle Gott!“, begleitet vom Posaunenchor der deutschen Gemeinden, beschließt diesen Gottesdienst. Fröhlich, beschwingt, gesegnet geht die Gemeinde wieder auseinander. Vor Ort bleiben die Leute noch ein wenig zusammen stehen, unterhalten sich. Später wird es viele Mails, WhatsApp-Nachrichten, Telefonate und Videoanrufe hin und her geben, denn trotz der Entfernung haben es alle gespürt: Wir sind gemeinsam Kirche. Wir gehören zusammen in Christus..

Natürlich gibt es Menschen, die die Videoaufzeichnung erst später ansehen oder den Gottesdienst über eine spezielle Telefonnummer später anhören. Auch die Predigt liegt zum Nachlesen aus und wird per Email verschickt, die Technik ist inzwischen so weit, dass die Mitschrift automatisch verfasst wurde. Der Gottesdienst-Podcast wird in den nächsten Tagen noch mehrere hundert Mal abgerufen, auch das Video auf Youtube. Viele von denen, die den Gottesdienst zu einem späteren Zeitpunkt nacherleben, berichten hinterher, dass sie sich ebenfalls ein Stück Brot und Wein genommen haben und die Zusammengehörigkeit mit den anderen spürten.

Und nun die spannende Frage, für die ich dieses ganze Szenario entwickelt habe: Ist das alles für Sie „richtiger“ Gottesdienst? Oder gibt es Stellen, an denen Sie „ausgestiegen“ sind? Bei der unbekannten Fürbitte via Twitter vielleicht? Oder beim Abendmahl zu Hause? Oder spätestens beim zeitversetzten Abendmahl zu Hause via Youtube oder Telefon? Bei der Taufe? Haben Menschen, die vorher ein Gebet aufgeschrieben haben, das im Gottesdienst verlesen wurde, am Gottesdienst teilgenommen, auch wenn sie nicht live dabei waren? Was ist mit denen, deren Gedanken in der Predigt vorkamen? Welche Verbindung haben sie mit denen, die den Gottesdienst erst ein Jahr später auf Youtube ansehen und mitfeiern?

Ich stelle mir vor, dass die Menschen, die jeweils ihren eigenen Weg und ihre eigene Zeit gewählt haben, diesen Gottesdienst wirklich als Gottesdienst erlebt haben, in denen ihnen Jesus nahe ist. Und in dem sie den Menschen an den anderen Orten nahe sind. Reicht das aus? Oder müssen gewisse „Grundbedingungen“ dafür vorhanden sein, damit ein Gottesdienst sozusagen „richtig“ ist und das Abendmahl „gültig“? Wenn ja, welche? Und warum? Was würde Jesus dazu sagen? Spannende Fragen, auf die ich keine ganz abschließende Antwort habe. Außer vielleicht der: Warum sollte Gott, der Herr über Raum und Zeit, ein Problem mit einem zeitversetzten Gottesdienst an verschiedenen Orten haben? Ist es nicht viel mehr ein Zeichen dafür, dass Gott größer ist als das, was wir unter Kirche verstehen?

Irgendwie habe ich jetzt richtig Lust bekommen, genau so einen Gottesdienst zu feiern wie in diesem Text beschrieben. Mal sehen, was 2030 technisch möglich ist.. Seien Sie gesegnet, wo und wann auch immer Sie diesen Text lesen!

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