Einer trage des anderen Tweet

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Warum bin ich eigentlich Pfarrer geworden? Ein Grund – neben einigen anderen – war, denke ich, dass mich das Thema „Seelsorge“ sehr interessierte. Das ist es doch, was ein Pfarrer tagein, tagaus zu tun hat. Seine Schäfchen besuchen. Mit ihnen reden. Ihnen zuhören. Mut machen. Mit ihnen beten und schweigen, trauern und lachen. Für sie da sein. Ja, so hab ich mir das mal irgendwann vorgestellt: Einer trage des anderen Last.

Die Wirklichkeit ist natürlich ein wenig anders. Da komme ich dann nach Schulunterricht, diversen Verwaltungstätigkeiten und mit dem neu entworfenen Plakat in der Tasche zum Geburtstagsbesuch und schlürfe meinen Kaffee (diesmal schmeckt er Gottseidank wenigstens nicht nach Spülmittel) neben dem Vetter der Großnichte der verstorbenen Erbtante des Geburtstagskindes, während selbiges in der Küche steht, den nächsten Hektoliter Kaffee brüht und mir gleichzeitig Tonnen von Schokolade („wie viele Kinder haben Sie, Herr Pfarrer?“) einpackt. Derweil erzählt mir der Vetter der Großnichte der verstorbenen Erbtante von seinem letzten Urlaub in Novosibirsk und von den Schwierigkeiten, dort Auto-Ersatzteile für einen Mazda zu bekommen. Kurz: Nette, unverbindliche Gespräche, wenn ich denn überhaupt mal dafür Zeit habe. Aber hab ich dafür wirklich jahrelang Theologie studiert? Ich möchte diese Gespräche gar nicht kleinreden, denn auch sie sind wichtig und ich führe sie gerne. Aber: Seelsorge ist was anderes.

Dann doch eher die zufälligen Treffen im Supermarkt. Da erfährt man wenigstens den neuesten Tratsch und Klatsch. Und manchmal auch ein paar ernste Themen, aber die eher nur so am Rande. Angedeutet. Da muss ich oft schon genau hinhören, um es überhaupt wahrzunehmen.

Oft habe ich das Gefühl: Die Leute wollen schon mit mir sprechen über die Themen, die sie bewegen. Aber sie wissen nicht so recht, wie sie da hinkommen sollen. Einer hat mich einmal wirklich mit seiner – zugegeben interessanten – Lebensgeschichte zweieinhalb Stunden lang zugeschüttet. Doch erst in dem Moment, als ich schon aufgestanden war und mich nun definitiv verabschieden wollte, kam er mit dem Erlebnis, auf das er die ganze Zeit hingearbeitet hatte und das er unbedingt loswerden wollte. 

Beerdigungsgespräche mag ich deshalb eigentlich sehr gern, so komisch es klingen mag. Denn da ist es „normal“ und „erlaubt“, dass Menschen aus sich heraus gehen. Dass sie von sich erzählen. Auch da tun es nicht alle. Doch manchmal gehen die Gespräche weit darüber hinaus, was der oder die Verstorbene für ein Mensch war. 

Manchmal gibt es solche „Sternstunden“. Doch insgesamt gibt es in meinem Pfarrerleben enttäuschend wenig echte Seelsorge-Begegnungen. Ich habe das Gefühl: Die Leute würden schon gern, aber sie finden nicht die richtigen Worte. Sie drucksen herum. Sie schleichen um den heißen Brei – oder bleiben ganz stumm, erzählen stattdessen vom Urlaub in Novosibirsk und den Problemen mit dem Auto. Andere verstecken das, was sie bewegt, in einem schier nicht enden wollenden Schwall von Worten. Nur wenige schaffen es, auf den Punkt zu kommen. Dazu zu stehen, was sie bewegt. Auge in Auge mit dem Pfarrer. 

Manche haben in den letzten Jahren eine ganz neue Lösung für dieses Problem gefunden: Das Internet. Dem Pfarrer eine Mail schreiben, ihn über Facebook kontaktieren oder sogar über private Nachrichten auf Twitter: Das geht. Das läuft sogar jetzt gerade, während ich diesen Eintrag schreibe. Da sind die Hemmungen geringer, denn man muss dem anderen nicht in die Augen schauen, und außerdem kann man sich beliebig lange Zeit lassen, um eine Formulierung reifen zu lassen. Vor ein, zwei Jahren schrieb mich einer über Facebook an, den ich im „echten Leben“ alle paar Wochen mal sehe: „Scheiße, ich hab Krebs.“ Lange ging es hin und her, viele Details, viele Gedanken über den Sinn des Lebens und den Sinn des Leidens. Zum Glück wurde dieser Mensch wieder gesund. Doch unausgesprochen, nur angedeutet war da seine Bitte: „Sprich mich auf dieses Thema bloß nie an, wenn wir uns in echt, im wahren Leben treffen. Das bleibt unter uns, auf Facebook. Da kann ich mich ausdrücken, kann mich auch mal ein bisschen zurücknehmen, wenn es mir zu eng wird.“ Ohne Facebook hätte es diesen segensreichen Gedankenaustausch nie gegeben.

Seelsorge im Internet? Lassen wir mal die ganzen Datenschutz-Bedenken beiseite, auf die ich nach Möglichkeit auch bei solchen „Gesprächen“ hinweise. Ich kann mir schon vorstellen, dass es viele gibt, die dieser neuen Form kritisch oder zumindest skeptisch gegenüberstehen. Wie kann das funktionieren? Braucht es nicht gerade den direkten Kontakt für ein Gespräch? Ist das „Gespräch unter vier Augen“ auf einmal obsolet? Muss ich jetzt zur Computertastatur greifen, um meine/n Pfarrer/in überhaupt noch kontaktieren zu können? Wird es in fünf oder zehn Jahren vielleicht dann schon Seelsorge-Automaten geben, die das alleine machen?

Also, die Seelsorge-Automaten gab's schon vor zwanzig Jahren auf meinem guten alten C-64. Leider habe ich den Namen dieses genialen Programms vergessen, das einem wirklich so etwas wie eine Art Psychotherapie-Sitzung vorgaukelte. Aber so schnell wird uns als echte Seelsorger keine Maschine ersetzen können, da bin ich sicher. Und natürlich wird es weiterhin das echte Gespräch geben – aber eben auch das Telefonat, den Brief, die Mail, den Facebook-Kontakt, die private Nachricht via Twitter. Egal, welchen Kanal mein Gegenüber wählt: Dafür bin ich doch da als Seelsorger. 

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