Vom Fallen

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Spiritus Blog mit Birgit Mattausch
Geistvoll in die Woche
Vom Fallen

Die schönsten Momente im Herbst sind für mich diese:

Ich gehe eine Straße entlang, der Himmel ist grau, die Menschen ducken sich hinein in ihre Mäntel und Schals.

Und dann fallen Blätter von den Bäumen. Gelbgolden fallen sie von rechts oben nach links unten, taumelnd, in Schwärmen und Zufalls-Choreographien.

Ich bleibe dann immer einen Moment stehen. Ich möchte auf diese Schönheit zeigen. Oder noch besser: Ich möchte selber ein solches fallendes Blatt sein. Ein sich selbst loslassendes Wesen.

Bin ich aber nicht - und deshalb eile ich dann weiter: Zum Netto, zum Meeting, zum Schreibtisch, zum Zug und wieder von vorn. In meinem Kalender reiht sich ein Termin an den andern. Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf kam, dass Veranstaltungen in vier verschiedenen Bundesländern innerhalb von zehn Tagen eine fantastische Idee und kein Problem für mich seien.


Wobei - doch, ich weiß, wie ich darauf kam: Ich dachte, es sei kein Problem, weil es schließlich für alle anderen offensichtlich auch kein Problem ist. Um mich herum in der churchy GenX-Bubble wird geeilt, gehustelt, selten gut geschlafen und danach immer weiter weiter und weiter gemacht - Carearbeit noch oben drauf.
Neulich sagte eine Bekannte (gleich alt wie ich) nach ein paar Gläsern Wein zu mir, sie arbeite eigentlich gar nicht so viel und sie fände es wunderbar, würde das aber niemandem sagen. Zu groß die Befürchtung, dafür verurteilt zu werden - und sicher ziemlich berechtigt. Nicht immer am Limit zu sein, das ist ein nahezu unglaubliches Privileg, über das man in meiner Generation besser nicht spricht.

 

Dabei ist es doch völlig klar und die Bäume flüstern es uns zu: Wir können nicht unentwegt grün und frisch und kraftvoll sein. Wir brauchen das Fallen, das Ruhen. Das Loslassen. Liegenbleiben, Kompostieren. Wir brauchen die Stille des Sabbats. Die Gewissheit, dass wir sein dürfen. Nicht nützlich sein, nicht produktiv, nicht hilfreich - einfach nur sein.

Ich bleibe also für diesen einen Moment stehen. Höre den Bäumen zu. Die fallenden Blätter. Die in mich hineinfallende Stille. Sie ist hier - zwischen den Häusern. Und ich bin hier. So war ich einmal gedacht. Ein mich selbst loslassendes und mich selbst empfangendes Wesen.

Und ich nehme mir für diesen Herbst vor, bei den nächsten Terminanfragen nicht wieder zu meinen, alles müsse kein Problem für mich sein. Ich nehme mir vor, mich mehr mit den Bäumen zu vergleichen und weniger mit den Menschen. Zum etwa 97. Mal nehme ich es mir vor.

Manchmal klappts ja. Ein bisschen zumindest. 

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