Was man lange ansieht, das wird man

Was man lange ansieht, das wird man
Schau ich das Kind an, werde ich zum Kind, schau ich viele kleine Videos an, werde ich fragmentiert.
Schau ich die sterbende Tante lange an, werde ich alt.

Die Religionen haben sich Objekte der Anbetung gewählt. Die sieht man immer wieder an. Sie sind zentral am heiligen Ort installiert - man kommt daran nicht vorbei. Schau dahin sagen sie.
 

Ich frage mich schon länger, warum der Gekreuzigte als Meditationsobjekt so dominant in unseren Kirchen hängt. Die Orthodoxen haben Ikonen, die Buddhisten den Buddha.

Das Kreuz mit dem Gefolterten ist ja eine Erfindung des Mittelalters. Man verreckte an der Pest oder im regionalen Krieg. Eine einfache Wunde konnte tödlich sein, und es gab kaum flächendeckende Polizei, die den Raubmörder im Wald zur Rechenschaft zog. Wenn der Christengott schon so weit weg ist, dann war der leidende Christus ein Trost.

In der Zeit der ersten Christen war das Kreuz nicht so wichtig - eher die Auferstehung. Evangelische Leute haben sich den Karfreitag ganz und gar in die Mitte gestellt: Tod, Sühne und Opfer.


Ich finde das einseitig. Ich mag, dass dieser Christen-Gott in Jesus ein Gesicht hat, ich bin bewegt von seinem Weh. Ich sehe an so einem Kruzifix, in welche Verzerrung mein Gott sich begeben hat. Welcher der Götter in anderen Religionen tut das schon? Und gleichzeitig wünsche ich mir ein Bild oder eine Figur, die ich ansehen kann und die mir ohne den Umweg über den Schwerz guttut. Der Buddha ist es für mich nicht, der kommt aus einer ganz anderen Welt. Aber wie er da so versunken sitzt - das richtet mich auf. Ich übe sein Lächeln, denn wenn ich länger als 10 min lächle - egal was ich fühle -, dann wird mein Gemüt heller. Von außen nach innen übe ich den anderen Ausdruck. Der Buddhismus kennt ja das Leid, aber der Buddha hat es überwunden. Mit dem toten Jesus klappt sowas nicht.

Dann denk ich wieder: vielleicht kann man zwischen zwei Bilder hin- und her-schauen? Eins mit Weh, eins mit Freude.

 

Suche ich in der christlichen Ikonografie, auch unter den Heiligen, so finde ich viele aufgespießte und gesteinigte Leute. Ihr Märtyrertod ist es wert gezeigt zu werden. Das Drama auch. Überhaupt spielt ihr Tod im Bild die Hauptrolle, weniger das Leben. Das ist nett als Gruselfaktor, aber zum dauernden Anschauen?

 

Könnte nicht mal jemand den Glanz über unseren Köpfen abbilden an zentraler Stelle?

Könnte man nicht mal ein halbes Jahr lang diesen Engel im Fels mittig am heiligen Ort postieren mit seinen Stein-Armen, die von Ewigkeit zu Ewigkeit da schon warten auf mich?

Ich sehne mich nach Helligkeit in unseren Kirchen. Nach hellen Bildern, die mir Mut machen. Ich leugne weder den Schmerz, und ich bin auch zuzeiten bereit für seine Abbildungen. Aber diese christliche Verliebtheit ins Elend in Predigten, Bildern und blutvollen Liedern - das ist ergänzungsbedürftig.

Denn wenn ich lange hinsehe, will ich das Leben ahnen.

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