An Bord mit dem Team von "Ärzte ohne Grenzen"

An Bord mit dem Team von "Ärzte ohne Grenzen"
MSF Hebamme Marina misst die Temperatur der Covid-19-Verdachtsfälle
© epd-bild/Thomas Lohnes
"Ärzte ohne Grenzen" Hebamme Marina misst die Temperatur der Covid-19-Verdachtsfälle.
Sie sind seit Beginn der Mission mit uns an Bord, das Team von "Ärzte ohne Grenzen". Die Organisation ist für den medizinischen Teil der Rettungsoperation der "Sea-Watch 4" zuständig. Wie verlief die Mission in Zeiten von Covid-19? Was waren die Herausforderungen von medizinischer, aber auch menschlicher Seite? Warum ist der Pull-Faktor kein Argument gegen die Seenotrettung und was hat die Mission mit dem Hashtag #BlackLivesMatter zu tun?

"Was würdest Du in einer Situation tun, in der Du keine Wahl hast?" Das fragt Hannah Wallace-Bowman von "Ärzte ohne Grenzen" (MSF). Die Britin ist Field Communication Manager für MSF hier an Bord. Sie selbst hat in dreieinhalb Jahren Arbeit in den Such- und Rettungsgebieten auf dem Mittelmeer intensive Erfahrungen gesammelt.

Die Leute, die meinen, dass die Migrant:innen auf den Gummibooten eine Wahl gehabt hätten, würde sie gern einmal an Bord eines Rettungsschiffes bringen: "Sie sollen sich die Geschichten der Geflohenen anhören, damit sie die Realität verstehen. Sie sollen die Hoffnungslosigkeit spüren, die Menschen bewegt, in solche Boote zu steigen. Sie sollen hören, wie es ist, wenn man in der Mitte der Nacht mit einem Gewehr in dem Rücken in diese Boote steigt, man sich zum Horizont aufmacht mit keiner Garantie, je wieder an Land zu kommen." Zuerst glaube ich, dass es ein großes Missverständnis darüber gibt, wie gefährlich diese Reise für die Flüchtenden ist. Es ist nicht so, dass sie eines Morgens denken, "wir steigen in so ein Boot und dann kommt ein Rettungsschiff, das uns rettet". "Wir befinden uns hier auf der tödlichsten Seegrenze der Welt", sagt Hannah.

Marina aus Japan, dekoriert einen Raum, der bei den Rettungsmissionen als Frauen-Quartier genommen wird.

Man müsse sich vorstellen, dass diese Leute bereits Wunden von den Folterungen haben, dann sind sie Schiffbrüchige und zuletzt wird ihnen noch erzählt, dass sie nicht gewollt sind. "Was ist das, wenn wir die Leute auf See halten, ihnen keinen sicheren Hafen geben können?" Für sie als Europäerin sei das beschämend, zumal es sich um eine vergleichsweise kleine Anzahl von Menschen handelt, die ausgeschifft werden müsste. Es müsse endlich ein innereuropäisches, humanes System geben, dass die Ausschiffung in einen "place of safety" (sicheren Hafen) ermögliche.

Viele Folgeerscheinungen von Missbrauch und Folter

Auch für Barbara Deck, Krankenschwester und Projektkoordinatorin von MSF an Bord der "Sea-Watch 4" war es unverständlich, dass die 353 Geflüchteten nicht sofort in einen sicheren Hafen ausgeschifft werden konnten, nach allem, was sie durchgemacht hätten. "Es war mit diesem recht langen stand-off (11 Tage) herausfordernd, den hohen medizinischen Standard und die würdevolle Behandlung, die diese Menschen verdienen, aufrecht zu erhalten." Mit zuletzt 353 Menschen an Bord sei es nicht einfach gewesen, Schutz, würdige Liegemöglichkeiten, Spielmöglichkeiten für die Kinder und das alles unter den Auflagen zur Vorbeugung vor Covid-19 zu gewährleisten, sagt Barbara. In der Schiffsklinik hatte das Team von MSF über 500 Konsultationen. Viele Folgeerscheinungen von Missbrauch und Folter mussten die Ärzte sehen. Im Kontext einer Pandemie diesen Einsatz geleistet zu haben, darüber ist Barbara Deck aber froh und stolz auf das gesamte Team. "Wir kamen zusammen und haben als gesamtes Team der "Sea- Watch 4" Dinge geschafft, die beeindruckend sind". Am Ende der letzten Rettung war bei ihr das Gefühl von "Wow, wir haben es geschafft!", sagt sie.

Das Ärzte ohne Grenzen (MSF) Team: Marina, Aniek, Hannah, Alexandre, Babara und Ilina (L-R) in der Klinik an Board der der "Sea-Watch 4" vor Parlermo.

Gefragt nach dem "Pull-Faktor", der oft angeführt wird, kontert Hannah Wallace-Bowmann und hält ihn für ein groteskes Argument gegen die Seenotrettung. Das Pull-Faktor-Argument untertreibe die tödliche Gefahr, die auf dem zentralen Mittelmeer bestehe. "Es ist zynisch und nimmt uns Europäer und auch unsere Geschichte nicht in die Verantwortung." Und noch ein Argument nennt sie gegen den Pull-Faktor: Ob Rettungsschiffe in internationalen Gewässern unterwegs seien oder nicht, die Menschen kämen trotzdem. "Menschen, die keine Option haben, machen diese Reise, ob sie gerettet werden oder nicht. Wenn wir was tun können, um die Sterberate zu mindern, ja - dann machen wir das", sagt sie.

Ungleichheit zwischen den Ländern der Erde

Das sieht auch Aniek Cromback so. Sie ist die Ärztin an Bord der "Sea-Watch 4". "Für uns ist die Covid-19-Pandemie kein Grund, keine medizinische Hilfe zu leisten. Eher ist es noch wichtiger zu dieser Zeit genau hier zu sein. Ich will gerade jetzt noch mehr Menschen helfen". Auch, wenn die Pandemie es noch schwerer mache, Menschen in Ländern zu helfen, die sowieso schon von Krieg, Armut oder Naturkatastrophen schwer getroffen sind. "Covid-19 macht die Ungleichheit zwischen den Ländern der Erde noch offensichtlicher", sagt die Ärztin. Nicht alle hätten den Luxus von "Social-Distancing" und "Homeoffice". Wie solle beispielsweise in einem Flüchtlingslager ohne laufend Wasser und auf beengtem Raum der Abstand oder das Händewaschen eingehalten werden?

Sie ist froh, dass die Zusammenarbeit mit "Sea-Watch" geklappt hat und das Team von MSF wieder zur See fahren konnte, um zu helfen. "Wir hatten harte Zeiten auf dieser Mission mit rauer See, einer großen Zahl von Geretteten an Bord (353) und den Covid-19- Schutzmaßnahmen", sagt die Ärztin. Nach WHO-Richtlinien wurden die Schutzmaßnahmen zum Covid-19-Virus an Bord der "Sea-Watch 4" umgesetzt. Die Crew absolvierte Trainings im An- und Ablegen der persönlichen Schutzkleidung (PPE). "Wir hatten extra Kleidung, die in einem speziellen Programm gewaschen wurde und extra Umhänge, um die isolierten Gäste zu besuchen. Jeder wusste, wie er die PPE an- und ablegt", sagt Aniek. Soweit es auf einem Schiff möglich war, wurden Abstands-Regeln eingehalten. Auch die Geretteten wurden im Maskentragen und Handwäsche unterrichtet. "Ich war froh und stolz, wie gut sie unseren Erklärungen gefolgt sind." Personen mit Symptomen wurden isoliert. Nach dem Transshipment der Geretteten an Bord des italienischen Quarantäneschiffs "Allegra" machten die 353 Geretteten eine Covid-19-Test, der vielversprechend aussah. Die finalen Ergebnisse folgen noch, sagt die Ärztin.  Das "Rote Kreuz" testete die gesamte Crew der "Sea-Watch 4" negativ auf das Virus. "Das zeigt, dass unsere Maßnahmen gewirkt haben", sagt Aniek.

Nächster Auslauftermin unklar

Für die Ärztin war insbesondere die Begegnung mit einem geretteten Teenager emotional aufwühlend. "Er war alleine unterwegs und nahm das Risiko auf sich, sein Leben zu verlieren". Während der Fahrt kollabierte er auf dem Gummiboot und fiel in die Mitte des Bootes. Für einige Zeit lag er dort in einem gefährlichen Salzwasser-Benzin-Gemisch, das große chemische Verbrennungen auf seinem Körper verursacht hat. "Als er auf unser Schiff kam, versorgten wir ihn medizinisch so gut wir konnten. Leider waren die Verbrennungen so stark, dass wir ihn medizinisch evakuieren mussten." Das war für Aniek ein trauriger Moment, dass der Junge mit ein paar Freunden gereist war und das Schiff nun wieder alleine verlassen musste. Auf ihrer letzten Mission hat die "Sea-Watch 4" über 100 unbegleitete Kinder und Jugendliche gerettet. Einige waren als sie aus ihrem Land flohen bereits verwaist, flohen vor Krieg und Konflikten oder extremer Armut.

Das Team von MSF wird noch an Bord der "Sea-Watch 4" bleiben. In Zeiten, in denen mehr und mehr Rettungsschiffen das Auslaufen extrem erschwert wird, ist es fraglich, wann das Bündnisschiff wieder auslaufen darf. "Wir tun unsere Bestes, um wieder los zu können. Leider wird uns unsere Arbeit von den Regierungen immer wieder stark erschwert", sagt die Ärztin. Für sie gehe das Hand in Hand mit der BlackLivesMatter-Diskussion. "Wenn die Leute auf den Booten weiß wären, sähe alles ganz anders aus. Das ist die Realität", meint sie.

Ein Moment, der Hannah von der ersten Mission der "Sea-Watch 4" bleiben wird, ist der, als die Sonne unterging, just als diese lange Rettung der Menschen von der "Louise Michel" an Bord der "Sea-Watch 4" zu Ende ging. " Wir entfernten uns zum letzen Mal mit dem Schnellboot und den letzten Geretteten von dem pinken "Bansky-Schiff" in Richtung Mutterschiff. Plötzlich fingen alle an zu klatschen. Wir, die Crew der Louise Michel und die Geretteten. Wir nahmen unsere Hände und formten Herzen. Ein Symbol der Hoffnung vor der untergehenden Sonne." Trotz aller Anstregung sei das ein wunderschönes Beispiel an Zusammenarbeit gewesen. Ein Beispiel dafür, was erreicht werden kann, wenn wir gemeinsam an einer humanen Welt arbeiten. Für Hannah war das ein Moment, der die Möglichkeit einer besseren Welt zeigte.

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