Ein Märtyrer der Medienfreiheit

Ein Märtyrer der Medienfreiheit
Vor nicht ganz 200 Jahren lief in der Medienlandschaft so gut wie alles völlig anders als heute. Anknüpfungspunkte gibt es dennoch, zeigt die Geschichte eines ziemlich vergessenen hessischen Publizisten (und Theologen).

Den ursprünglichen Text hatte B., ein im Vorjahr aus dem Ausland heimgekehrter Medizinstudent, verfasst. Seinen späteren Co-Autoren W. hat B. eher als Helfer bei der Verbreitung gesucht. W. war in der Medienindustrie gut vernetzt und kannte vertrauenswürdige Drucker. Die Veröffentlichung oppositioneller Texte war streng verboten. W. wollte aber den Text noch verbessern oder wirksamer machen. Bei einem Treffen mit Mitstreitern aus dem nördlichen Nachbarstaat, bei dem auch ein Presseverein gegründet wurde, gab es Streit über W.s Änderungen. B. soll sehr wütend gewesen sein, doch schließlich schien ihm wichtiger, dass überhaupt etwas geschieht.

Sprengkraft bezog der Text aus der Kombination zweier Faktoren. Er enthielt statistisches Datenmaterial, zum Beispiel bis auf den Gulden genau, wieviel die 718.373 Einwohner des Staates an direkten und indirekten Steuern zahlten, was davon Institutionen wie "das Ministerium des Innern und der Gerechtigkeitspflege" ausgaben und was die Ausstattung der Staatsdiener ("Fräcke, Stöcke und Säbel") kostete. Das verknüpfte der Text, andererseits, mit unmittelbaren und mittelbaren Bezügen zur Bibel. Es sehe

"aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt",

heißt es etwa.

Während des Produktionsprozesses wurden viele Spuren geschickt verwischt, sowohl als drei Verschwörer an fünf Tagen im Juli das redigierte Manuskript über zwei Landesgrenzen hinweg zur Druckerei brachten, als auch, als Ende Juli andere die über 1.000 gedruckten, achtseitigen Exemplare abholten. Gegen Verrat, sozusagen durch einen V-Mann der Staatsgewalt, half das jedoch nicht. Einer wurde mit 139 Exemplaren des Blatts am Stadttor der Universitätsstadt verhaftet. Viele davon waren in seine Kleidung eingenäht. Das machte die Behauptung, er habe die gefährlichen Schriften bei der Polizei abliefern wollen, unglaubwürdig. Dummerweise begann der Text so:

"Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren; sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen; denen, welche sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinterlegen; würde das Blatt dennoch bei Einem gefunden, der es gelesen hat, so muß er gestehen, daß er es eben dem Kreisrat habe bringen wollen; wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm findet, der ist natürlich ohne Schuld."

"Friede den Hütten! Krieg den Palästen!"

Kein Wunder, dass nur wenige Blätter erhalten blieben – vor allem diese, ähm, sichergestellten Exemplare. Weil B. sich zu Fuß aufmachte, die Mitstreiter persönlich zu warnen, geschah denen zunächst wenig. Die Druckplatten scheinen vergraben und nie mehr gefunden worden zu sein. [Nachtrag, 16.7.: Statt Druckplatten gab es einen Bleisatz mit beweglichen Lettern, die nach dem Druck vermutlich auseinander genommen wurden, weshalb Polizei gründlich, aber vergeblich nach Spuren suchte.] Später im Jahr wurde sogar noch eine kleinere, weiter veränderte zweite Auflage gedruckt, die gleich mit der berühmten Zeile "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" begann.

Es handelt sich also um den "Hessischen Landboten" aus dem Jahr 1834. Ob er überhaupt etwas bewirkt hat, war umstritten, wann immer später drüber gestritten wurde. Das geschah vor allem in Zeiten, die revolutionär waren oder sich dafür hielten, nach dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten  und in den 1960er Jahren. Einiges zur wendungsreichen Interpretationsgeschichte des "Landboten" steht in der Reclam-Ausgabe (2,99 € als E-Book). Den reinen Text gibt's gratis etwa auf buechnerportal.de.

Unmittelbarer Aufruhr folgte nicht, war vielleicht aber auch gar nicht beabsichtigt. Immerhin fand Ende des folgenden Jahrzehnts eine der vergleichsweise gelungensten deutschen Revolutionen statt (über deren zeitweiligen Erfolg noch immer gestritten werden kann), besonders im südwestdeutschen Raum, an den das Verbreitungsgebiet des "Landboten" angrenzte. Staatliche Stellen bescheinigten dem Flugblatt Wirkung. Die Bundes-Zentralbehörde in Frankfurt (die heutzutage manchmal mit der gut ein Jahrhundert später entstandenen Stasi verglichen wird) sah darin "unverkennbar das Werk eines erfahrenen, gewandten und geübten demagogischen Schriftstellers".

Welche Passagen von B. stammen und welche von W. , ist teilweise noch immer unklar. Auch weil beider weitere Lebensgeschichten zwar unterschiedlich verliefen, doch unter schlechten bis schlimmen Umständen jeweils nur noch wenige Jahre. Georg Büchner gelang es in Gießen zunächst, kühl Verdacht zu zerstreuen, und dann trotz steckbrieflicher Fahndung nach Zürich zu fliehen, wo er weiter studierte, forschte und noch einiges schrieb, bis er zwei Jahre später mit 23 an Typhus starb. Büchners Bühnenstücke wurden 13, 41 und 65 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht und können auch im 21. Jahrhundert noch als Weltliteratur gelten. Das trug natürlich viel zur Nachwirkung seiner ersten Publikation, des "Landboten", bei.

Der Sound der Lutherbibel

Der Co-Autor hieß Friedrich Ludwig Weidig, war evangelisch-lutherischer Theologe und arbeitete vor allem als Lehrer und Rektor der Knabenschule im hessischen Butzbach. Der theologischen Prägung wegen wurde später oft kritisiert, wie er Büchners revolutionäreren Ursprungstext entschärft habe. Das bekannteste Beispiel: wie er die Formulierung "die Reichen" durch "die Vornehmen" ersetzte, um wohlhabende Liberale nicht auszuschließen, sondern ansprechen zu können. Hätte das auch noch ziemlich bekannte Zitat "Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag" stärker gewirkt hätte, wenn es "Das Leben der Reichen ..." gelautet hätte? Von beträchtlicher Schärfe ist jedenfalls auch der Büchner-Weidig-Text. Zum Beispiel:

"Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kinder, daß ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können ... und durch die geöffneten Glastüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert. Das alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen: 'diese Regierung sei von Gott."

Bei der vor allem bäuerlichen Zielgruppe in den Dörfern Mittelhessens waren aktuelle Medien rar und dürfte die Bibel der wichtigste Bezugspunkt gewesen sein. Das wusste auch Büchner (der "religiösen Fanatismus" als "Hebel" betrachtete ...). Die Verknüpfung von statistischen Daten mit dem Sound der auch in anderen Zusammenhängen oft zitierten Lutherbibel konnte jedenfalls revolutionäres Potenzial entfalten.

Weidig war spätestens seit seiner Mitwirkung an den Vorbereitungen zum Hambacher Fest 1832, einem wichtigen Baustein heutigen bundesdeutschen Selbstverständnisses, als Oppositioneller bekannt und hatte nach dem Frankfurter Wachensturm sieben Wochen in Haft gesessen. Später saß er schon mit seiner schwangeren Frau und dem kleinen Sohn [Nachtrag, 16.7.: ohne sie]  in der Kutsche ebenfalls in Richtung Schweiz. Dort hätte er als Lehrer arbeiten können. Bei Hanau beschloss er, umzukehren. Er wurde aus dem Städtchen Butzbach ins Dorf Obergleen versetzt, wo er vor allem als Pfarrer wirkte. "1835 bei Nacht und Nebel verhaftet, wurde er in aller Heimlichkeit abtransportiert. Man hatte sogar die Hufe der Pferde und die Räder der Kutschen mit Stroh und Tüchern umwickelt", heißt es im Obergleener Internetauftritt.

Sozusagen zu Tode gefoltert

Fast zwei Jahre lang saß er ohne Anklage in Isolationshaft – bis im Darmstädter Großherzoglichen Provinzial-Arresthaus wohl er selbst sich das Leben nahm. Zwar wurde Weidig trotz Antrags des Untersuchungsrichters nicht ausgepeitscht, doch war er zwischenzeitlich an Händen und Füßen gefesselt oder an die Wand gekettet. 1975 wurde festgestellt, "dass der Tod durch unterlassene Hilfeleistung mit herbeigeführt wurde". Aus heutiger Sicht wurde Friedrich Ludwig Weidig zu Tode gefoltert – weniger seiner Überzeugungen wegen, sondern als Redakteur und Publizist oppositioneller Inhalte, der über seine Mitstreiter bei deren Erstellung und Verbreitung nichts aussagen wollte. Weidig war (und bleibt) sozusagen ein Märtyrer der Medienfreiheit. Auf der Zellenwand stand "mit Blut" geschrieben:

"Da mir der / Feind jede Verteidigung / versagt, so wähle ich einen / schimpfl. Tod / von / freien Stücken. F.L.W."

Das verbreitete sich in den 1830ern. Vermutlich ist es zum Teil Weidig zu verdanken, dass es ähnliche Fälle in Deutschland lange nicht mehr gab. Die großherzogliche Regierung betonte zwar, dass Weidig nach geltendem behandelt worden sei. Aber das bestritt ein Bruder Weidigs vor Gericht, das feuerte natürlich die Diskussionen über dieses Recht an. Und als Rechtsstaaten wollten deutsche Staaten schon in tief vordemokratischen Zeiten stets gerne erscheinen. In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts gab es dann viel mehr Schlimmeres und Märtyrer in unglaublicher Anzahl. Allerdings waren die, in der Nazizeit von Anfang an, Märtyrer der Freiheit an sich als solche der Medienfreiheit, die gerne als Seismograph für bedrohte Freiheit an sich betrachtet wird. Lässt sich das sagen?

Über so etwas, über frappierende Parallelen zur globalen Gegenwart und über krasse Unterschiede, was die Medien angeht, die seinerzeit überhaupt nicht omnipräsent waren, sondern in langwieriger, auch körperlicher Arbeit mühsam hergestellt und verbreitet werden mussten, ließe sich viel und gut diskutieren. Bloß müsste Weidig auch jenseits der hessischen Kleinstadt Butzbach, die sich seit 2011 "Weidigstadt" nennt und ihn in ihrem Stadtmuseum würdigt, überregional bekannter sein.

Weidig selbst mochte solche Diskussionen übrigens. So war er schon an der ebenfalls konspirativ gedruckten Zeitschrift "Leuchter und Beleuchter für Hessen" beteiligt [Nachtrag, 16.7.: als Herausgeber]. Nach Erscheinen hatte die Polizei "1.000 Gulden auf die Entdeckung der Presse" ausgesetzt, also Belohnung fürs Verraten der Druckwerkstatt. Worauf ein anonymer, vermutlich von Weidig fingierter Hinweis einging, der eine Hausdurchsuchung in Butzbach nach sich zog, die aber zu keinem Ergebnis führte als einem Spottgedicht über die hereingelegte Polizei in einer weiteren Flugschrift.

Nicht, dass es sehr wichtig wäre, aber: 50 Kilometer Luftlinie von Butzbach liegt Flörsheim, Geburtsort der aktuell wichtigsten deutschen Fast-"Ikone der Pressefreiheit". Zum Glück ist es Deniz Yücel in seiner nur einjährigen anklagelosen Isolationshaft in der Türkei klar besser ergangen als Weidig einst in Darmstadt. Doch schon die Reihe "FreeThemAll", die in der "Welt" immer noch weiter läuft, zeigt, wie viele noch vergleichbarere Beispiele es weltweit leider gibt.

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