Absolute Mehr-oder-weniger-heit

Absolute Mehr-oder-weniger-heit

Die schnellste Kritik zu "Absolute Mehrheit" erschien bei haz.de. Gratulation! Zur Stefan-Raab-Show selbst lässt sich festhalten: Wolfgang Kubicki bekam 42,6 Prozent – und die ersten Kritiker sind hinterher so gespalten wie die Glaskugelgucker es vorher waren. Eine "Zeit"-Redakteurin wird in Kubicki-Land derweil Oberbürgermeisterin (54 Prozent). Und bei der BBC tritt der Generaldirektor zurück.

Achtung, Achtung: Stefan Raabs neue politische Entertainmenttalkshow "Absolute Mehrheit" bei ProSieben erreichte am Sonntagabend ihr Hauptziel: mehr Frühkritiken als – eat this, mo'fuckers – "Günther Jauch". "Absolute Mehrheit" kommt auf mindestens achtzehn, und das, wo der Tag gerade mal begonnen hat. "Günther Jauch" kommt bislang nach meiner händischen Zählung auf null (bei Welt Online gibt es aus klickhurerischen journalistischen Gründen immerhin ein paar als Frühkritik anmoderierte Bilder). Das ist also schon mal positiv: Raab bringt Abwechslung ins Montagmorgen-Entertainment.

"Absolute Mehrheit" ist eine Mischung aus Casting- und Talkshow, bei der am Ende der Teilnehmer, der mindestens 50 Prozent der Zuschauerstimmen auf sich vereint, 100.000 Euro bekommt, selbst wenn es sich um Wolfgang Kubicki handelt. Treffende Kurzanalyse: "Jauch auf Koks". Das Endergebnis der Zuschauerabstimmung sagt ungefähr aus, wie es in "Absolute Mehrheit" zuging: 42,6 Prozent der Anruferstimmen vereinte am Ende der bekannteste Politiker der Runde auf sich, obwohl es Kubicki (8 % in Schleswig-Holstein) war. Für die FDP ist "Absolute Mehrheit" damit womöglich so etwas wie die nächste große politische Chance nach "Big Brother". Auch das ist doch schon mal positiv, also für die FDP jetzt.

Nach so viel Positivem vorab damit rein in die Medienbetrachtungen: Was ist mit dem neuen Talk über uns gekommen? Ein per Telefon vom Thomas-Dehler-Haus aus manipulierbares Monstrum, von dem letztlich nur Populisten profitieren? Wurde Politik hier auf unmögliche Art in den Unterhaltungsbetrieb eingespeist? Oder wurde, umgekehrt, in den Unterhaltungsbetrieb jetzt endlich mal ein wenig Politik eingespeist? Geht die Welt daran zugrunde? Oder wird sie, wie Stefan Raab tatsächlich irgendwo als Hoffnung äußerte, mit seiner neuen Show "ein wenig besser"?

Als Fazit kann man festhalten: Zwischen Raabs idiotischem, aber irgendwie symptomatischem Der-isst-mit-Stäbchen-Witz über Philipp Rösler (für den Spiegel Online ihn zurecht einen "Spaß-Rassisten" schimpft) und einer sinnlosen, aber schon recht komischen Szene, nämlich seiner ersten Frage an CDU-Politiker Michael Fuchs – "Herr Fuchs, wer hat die Gans gestohlen?" –, lagen nur ein paar Sekunden. Und so wie Raabs Witze lässt der Rest der Sendung auch die meisten Frühkritiker gespalten zurück.

+++ Eine kleine Presseschau: Bei haz.de (veröffentlicht um 0:34 Uhr – Gratulation, nur 19 Minuten Schreibzeit und damit Schnellster, sofern man die Lance Armstrongs unter den Journalisten weglässt, die ihre Kritiken zur am Montag zu Ende gegangenen Show einfach auf den Sonntag zurückdatierten) heißt es, die Sendung sei "kein Vollflop", aber:

"Von Anfang an ging's um die Pointe, um den schnellen Applaus. Ist ja schließlich 'Speed-Meinungsbuildung hier', sagte Raab. Nervtötend war das enthusiasmierte Publikum, das beim billigsten Slogan jubelte wie beim Basketball. So ist das halt, wenn Politik auf Erstwähler trifft."

Auf den Plätzen landen die Berliner BZ (0:36 Uhr, Zweiter – ein wahres Fotofinish), die schreibt: "Viel Klamauk, aber auch viele Pointen, kurze Reden, hohes Tempo, Raab gnadenlos direkt." Und (0:38 Uhr) Focus Online, wo man Raab einen Dermatologen wünscht: "Würden leere Versprechen juckende Hautausschläge verursachen: Es wäre nur die gerechte Strafe."

Bei DWDL (1:28 Uhr) ist eine Tendenz zum Positiven erkennbar: "In Zukunft gilt es, die aufkommenden Streitgespräche nicht sofort wieder im Keim zu ersticken. Die Horrorszenarien einiger Dauernörgler haben sich aber gewiss nicht bewahrheitet. Und ProSieben hat ganz nebenbei eineinhalb Stunden Politik schadlos überlebt." Auf den Seiten der Augsburger Allgemeinen (1:18 Uhr) heißt es: "Stefan Raab war bemüht, aber nicht überzeugend. Sein heeres Ziel, Politik für junge Leute interessanter zu machen, dürfte er nicht ganz erreicht haben. Dafür war der Talk – besser: die Show – zu flach."

Der Morgenpost-Kritiker findet, gegen Raabs Talk nähmen sich die "etablierten Talkshows bei ARD und ZDF" aus "wie der verranzte Perserteppich aus Raabs Studio". Wobei genau diese Verranztheit es zum Beispiel Joachim Huber bei Tagesspiegel.de angetan hat:

"Der Erstling des Pro-7-Moderators hat nebenbei aufgezeigt, wie professionell, wie gekonnt, wie journalistisch fundiert eine Anne Will oder eine Maybrit Illner ihre Aufgabe verrichten. Das ist beruhigend: Fernsehen im Format einer politischen Talkshow ist eine echte, eine achtbare Leistung. Stefan Raab hat seine Herausforderung noch nicht bestanden."

Bei der Berliner Zeitung online zieht Peer Schader ein sachte positives Fazit, aber auch nur im Vergleich zu den anderen Talks:

"Mit seiner Sendung hat Raab immerhin das Zeug, den öden Polittalk im deutschen Fernsehen wieder wachzurütteln. Ob die Politiker da dauerhaft mitspielen wollen, wird mindestens genauso spannend wie die nächste Ausgabe im Januar."

FAZ.net – auch hier ist der Maßstab der Vergleich mit den anderen Talks – schreibt:

"Inhaltlich und formattechnisch muss man 'Absolute Mehrheit' wohl einen Reinfall nennen. Aber der Angriff, das sei vorab gesagt, der ist gelungen. Darin liegt wohl der Hauptwert dieses Formats: Offen tritt es als Realsatire an und ist damit eine echte Gefahr für den Talk-Wahn, der die Öffentlich-Rechtlichen befallen hat. Alle inhaltliche Kritik an ihren Talkshows sitzen ARD und ZDF längst routiniert aus, verkaufen die tägliche Kapitulation trotzig weiter als seriöses Informationsangebot."

Und auch Bernd Gäbler, der "Absolute Mehrheit" im Vorfeld gelobt hatte ("Raab ist das, was die ARD nicht ist: innovativ"), vergleicht, für stern.de, die Sendung vor allem mit bereits eingeführten Talkformaten, kommt aber ebenfalls nicht zu einem wirklich positiven Schluss:

"Das Problem der meisten Talkshows ist, dass sie ein Gespräch nur simulieren, es im Ritual einer perfekten Dramaturgie ersticken. Das Problem bei Raabs 'Absolute Mehrheit' war, dass ein Gespräch im Sinne eines Austauschs von Argumenten gar nicht erst zu Stande kam. Im Prinzip war alles nur ein Abfeuern pointierter Statements."

Bei sueddeutsche.de fühlte man sich – vielleicht die lobendste Besprechung, sieht man von der bei N24.de ab – um 8:47 Uhr gut unterhalten. Nur eine Frühkritik gibt es, die "Absolute Mehrheit" richtig schlimm findet, die von Spiegel Online:

"Kubicki ist dabei ein der Sendung höchst angemessener Gewinner: Von Anfang an hat er den coolen Macker ohne Scheu und Rücksicht gegeben, was ihm kaum schwerfiel, ist doch seine gesamte Karriere auf dieser Rolle aufgebaut. Ganz genau wie die von Stefan Raab."

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+++ Soweit die Meinungen, die nach der Sendung geäußert wurden (ergänzend: handelsblatt.de, ftd.de, bild.de, welt.de und natürlich evangelisch.de), wobei da sicher noch die eine oder andere Betrachtung folgen wird. In der Echtzeitkommentierung während der Sendung am Sonntagabend kam die Show dagegen weniger grau, sondern sehr schlecht weg. Bei Twitter schwoll das Gemecker unter den Hashtags #AbsoluteMehrheit und #Raab (leider schaffte nur ersterer es in die weltweiten Twittertrends) mit zunehmender Dauer der Sendung an, bis schließlich eine absolute Mehrheit aller Beteiligten forderte, dass Moderator Raab sich mal ordentlich hinsetzen soll (exemplarischer Tweet 1, exemplarischer Tweet 2). Fiete Stegers hat bei Storify einige Tweets geordnet.

Was vor der Sendung noch geschah (nach all dem, was bereits am Freitag im Altpapier stand), verdient aber auch noch ein bisschen Aufmerksamkeit. Da gab es im Grunde keinerlei Grau, wie hinterher, sondern es gab a) Super und b) Megaschwachsinn. Für den Aufruhr war das nicht schlecht. Bundestagspräsident Norbert Lammert etwa nannte die Show frühzeitig ungesehen "Unfug", was für die Gesamterregung ideal war und wofür er von ProSieben eigentlich bezahlt werden müsste. Raab nannte Lammerts Kritik im SZ-Interview auf der Samstags-Medienseite (online eine Zusammenfassung) anschließend "unerhört", was PR-technisch auch kein ganz schlechter Diskussionsbeitrag war. Harald Martenstein schlug sich auf Raabs Seite. Es gab eine Liebeserklärung an Raab in seiner Funktion als Fernsehmacher von Spiegel-Online-Kolumnistin Silke Burmester, die ihn dabei konsequent duzte. Und auch sonst erfüllten die Interviews, die Raab im Vorfeld gab, ihren aufklärerischen Zweck. Große Gespräch mit ihm gab es doppelseitig in der Sonntaz, prominent im Tagesspiegel, und nicht zu vergessen das weltexklusive Interview, für das er den Spiegel schon im September gewann.

Dazu erinnert Ernst Elitz in der Berliner Zeitung, nachdem er aus unbekannten Gründen erst ein bisschen was vom Karneval erzählt hat, daran, dass er selber auch mal eine coole Show übelst wegmoderiert hat, die schon genauso fresh war wie jetzt die von Raab. Wenn auch natürlich ohne die Kommerzkacke, denn wo ein Elitz ist, geht es ja um das Gemeinwohl. Dass es einen Polittalk mit Duellcharakter und Publikumsabstimmung aber schon 30 Jahre lang in der ARD gab, da hat er schon recht (siehe den Nachruf auf "Pro&Contra" aus der Welt von 1998).

+++ Über der Beschäftigung mit "Absolute Mehrheit" soll aber nicht untergehen, dass die Verbindungen zwischen Politik und Medien gestern auch an einer anderen Front neu verschaltet wurden: Die Zeit wurde zur Oberbürgermeisterin von Kiel gewählt. Zeit-Redakteurin SPD-Politikerin Susanne Gaschke made the Rennen. Das Hamburger Abendblatt, nie um eine kluge These verlegen, berichtet online:

"Mit einem Online-Abonnement des Hamburger Abendblatts haben Sie vollen Zugang zum ePaper, zu allen Artikeln und zum Online-Archiv."

Gaschke erhielt 54,09 Prozent der Stimmen (Zeit Online, sz.de), was nach Adam Riese eine absolute Mehrheit bedeutet. Wenn auch nur in einer Stichwahl, in der, gähn, Wolfgang Kubicki nicht antrat.


ALTPAPIERKORB

+++ BBC-Generaldirektor George Entwistle ist zurückgetreten. "Er zog damit die Konsequenzen aus einem 'Newsnight'-Bericht, in dem ein ehemaliger Tory-Politiker fälschlicherweise des Kindesmissbrauchs beschuldigt wurde", fasst die taz zusammen (Medienseite) +++ Die FAZ widmet dem Fall ihren Feuilletonaufmacher und stellt die Verbindungen zum Fall ihres verstorbenen Moderators Jimmy Savile her, den sie umfassend erzählt: "Seit Wochen wird die BBC von Sturmböen umweht. Ihr wird nicht nur vorgehalten, zugelassen zu haben, dass sich ein komischer Kauz wie Jimmy Savile an leicht zu beeindruckenden Minderjährigen vergehen konnte, teilweise sogar in den Garderoben des Senders. Sie steht außerdem im Verdacht, Ende vergangenen Jahres eine Recherche der Tagesthemensendung 'Newsnight' über Savile unterbunden zu haben, um ihr Image zu schützen. Obwohl Entwistle, damals noch zuständig für die Programmgestaltung, über die Recherche unterrichtet gewesen sei, habe er zugelassen, dass kurz darauf an Weihnachten mehrere lobpreisende Würdigungen des 'unvergleichlichen' und 'unvergesslichen Jimmy Savile' ausgestrahlt wurden" +++ Für die BBC handle es sich um die "schwerste journalistische Krise ihrer Geschichte", schreibt der Tagesspiegel +++

+++ Der Spiegel schreibt über den Verlag Gruner+Jahr, der Anteile am Spiegel hält. Es geht um "Kuscheln mit den Werbekunden", innerbetrieblichen Protest dagegen, "Multi-Chefredakteur" Stephan Schäfer als liebevollen Kuschler, die neue Chefin Julia Jäkel, vor allem aber um die Zukunft der Financial Times Deutschland und von Capital: "Voraussichtlich bis zur Sitzung des Aufsichtsrats am 21. November wird Jäkel mit ihren beiden Vorstandskollegen entscheiden, ob der Verlag die Blätter dichtmacht oder doch noch daran glaubt, dass hier irgendwann Geld zu verdienen sei". Eine Idee für die FTD gebe es wohl: "Neue Abonnenten bekämen nur noch zweimal pro Woche eine Zeitung zugestellt und ansonsten eine digitale Ausgabe" +++ In diverse andere Medien geschafft hat es die Spiegel-Meldung, dass die "Super-Nanny" ein Jahr nach dem Aus bei RTL zum SWR gehe – als Reporterin. "Das neue Format heißt 'Expedition Familie'" +++

+++ Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibt derweil, eine Nummer kleiner, nur über ein Gruner+Jahr-Heft: Viva! +++ "Lieber Herr Gottschalk, gibt es Fernsehkritiker, deren Urteil Sie schätzen?", fragt der Leser Stefan Niggemeier, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung den Entertainer. Was soll der bekanntlich nie ausfällig werdende Herr Gottschalk darauf schon antworten, wenn nicht...? +++ Die Betrachtungen der FAS zu Hubert Burdas "Die Bunte-Story" stehen leider noch nicht online +++ Außerdem in der FAS: ein Interview mit "Breaking Bad"-Hauptdarsteller Bryan Cranston +++

+++ Im Fernsehen: Kritiken des Dokumentarfilms "Vatertage" (SWR) und von "Die Tote im Moorwald" (ZDF) in der FAZ, zum ZDF-Film auch in der SZ, von "die story" über Ursula von der Leyen (ARD) im Tagesspiegel +++

+++ Und auch noch in der SZ: ein Bericht über eine Lokaljournalismustagung von Netzwerk Recherche in den Räumen der SZ +++ Und ein Text über den Radio-Hörspielpreis +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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