Mutprobenfreiheit

Mutprobenfreiheit

Doris Heinze muss auf ihr Urteil noch warten, weil der Anwalt von der Produzentin so viel redet. Die Post muss eine NPD-Broschüre verteilen. Und Satire muss, ja, was muss sie eigentlich. Außerdem: Wie ZDF-Intendanten ihre Gestaltungsmacht in Zügen in Peru einsetzen

Die hottest News des Tages kommen später. Das für heute annoncierte Urteil im Doris-Heinze-Prozess muss verschoben werden. Der Grund: zu viele Beweisanträge. Andreas Nefzger notiert in einer hübsch zu lesenden Meldung in der FAZ (Seite 35):

"Dem Vorsitzenden Richter Bruns erschloss sich der Sinn der Anträge nicht: 'Ich verstehe nicht, wieso Sie lauter Beweisanträge stellen für Tatsachenbehauptungen, die unstrittig sind.' Schon am Verhandlungstag zuvor hatte Tachau [Verteidiger der Produzentin Richter-Karst, AP] eine zeitraubende Verhandlungsstrategie gewählt. Eine frühere Mitarbeiterin Doris Heinzes beim NDR vernahm er eineinhalb Stunden lang mit allerhand Fragen, bei denen das Publikum mehrfach auflachte."

Im am Gerichtsort ansässigen Hamburger Abendblatt schreiben Julia Weigelt und Almut Kipp nicht ganz so pointiert, resümieren dafür noch mal Selbstauskünfte der angeklagten Doris Heinze.

"Sie sprach von einem 'irre großen Fehler'. Sie habe permanent ein schlechtes Gewissen gehabt, sagte sie im Prozessverlauf."

In der Agenturmeldung, die etwa der Tagesspiegel druckt, wird nun der 5. Oktober als neuer Termin für die Urteilsverkündung angegeben, die SZ weiß davon (noch?) nichts.

[+++] Ein anderes Urteil wird heute auf der Seite 1 der FAZ diskutiert: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Post eine NPD-Publikation in Leipzig verteilen muss.

Für Freunde der klirrenden Sachlichkeit, mit der die Sprache der Gerichte aufwartet, ein Hochgenuss. Auch wenn der Laie bei den Diskutierten Paragrafen und Begriffen ("Universaldienstleistungen") sich konzentrieren muss. Ein Begriff, der auch fällt: Pressefreiheit.

"In diesem Zusammenhang argumentierten die Richter, dass der Beförderungszwang auch die grundgesetzlich garantierte Pressefreiheit fördere. Diese beinhalte auch, dass Erzeugnisse der Presse dem Empfänger so günstig wie möglich zuzuführen seien. 'Die Pressefreiheit begründet für den Staat jedoch eine inhaltliche Neutralitätspflicht, die jede Differenzierung nach Meinungsinhalten verbietet.'"

Interessant ist auch das Ende des Textes, weil dort von einer Interventionsmöglichkeit die Rede, von der die Post keinen Gebrauch gemacht hat:

"Zwar hoben die Richter hervor, dass die Beförderung auch des 'Klartext' [Titel der Pubklikation, AP] ausgeschlossen wäre, wenn 'besondere Ausschlussgründe' vorlägen, etwa weil der Inhalt der Publikation gegen strafrechtliche Bestimmungen verstoße; dazu habe die Deutsche Post im Verfahren jedoch keine Anhaltspunkte dargelegt. (Aktenzeichen I ZR 116/11)"

Für eine Diskussion der NPD – also etwa ihres Verbots – deutet dieser Hinweis aufs Grundsätzliche: dass die Anwälte der Post mögliche Anhaltspunkte als Argumente vor Gericht übersehen hätten, ist wohl nicht anzunehmen.

[+++] "Trittbrettfahrer der Meinungsfreiheit" ist ein Text von Stefan Kuzmany auf SpOn überschrieben, in dem es um die aktuellen Veröffentlichungen von Satiremagazinen wie dem französischen "Charlie Hebdo" und der deutschen "Titanic" geht.

"Es nervt", stöhnt Kuzmany, und versucht sich im Folgenden an einer Definition der Satire:

"Sie ist ein Instrument der Aufklärung: Pointiert bildet sie einen Missstand ab, entlarvt ihn damit und gibt die dafür verantwortlichen Mächtigen der Lächerlichkeit preis. Gute Satire hat ein klares Ziel."

Um sich dann zu fragen, was das mit den Aufregern der Gegenwart zu tun hat:

"Wogegen aber rennt nun 'Charlie Hebdo' an, das französische Satire-Blatt, das in der aufgeheizten Stimmung um den antiislamischen Hetzfilm 'Innocence of Muslims' neue Mohammed-Karikaturen veröffentlicht? Wogegen die deutsche 'Titanic', die auf ihrem nächsten Cover einen kombinierten Bettina Wulff/Mohammed-Film-Scherz versucht? Welche Obrigkeit wollen sie entlarven? Auf wen oder was zielen sie ab?"

In der TAZ fokussiert Cigdem Akyol in diesem Zusammenhang die Politik der Agenturen.

"'Ein weltumspannendes Netz von Redakteuren und Reportern garantiert die eigene Nachrichtenbeschaffung nach im dpa-Statut festgelegten Grundsätzen: unparteiisch und unabhängig von Weltanschauungsfragen, Wirtschafts- und Finanzgruppen oder Regierungen', so wirbt die Nachrichtenagentur dpa im Netz. Warum stellt sie den Medienredaktionen, die sie in Deutschland beliefert, dann nicht die Bilder aus Frankreich zur Verfügung?"

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An dem Text kann man schön sehen, wozu Gerichte gut sind – die Kriterien, nach denen die Agenturen die Bilder von "Charlie Hebdo" verbreiten, sind flexibler als Urteile. Da kann man dann Schiss zu sagen oder Vernunft, je nachdem, wie man die Meinungsfreiheit in diesem Zusammenhang auslegt.

Im Tagesspiegel zeigen sich Joachim Huber und Sonja Pohlmann vom Titel der Titanic, äh, enttäuscht:

"Dass Satire mit Unschärfe und Unentschiedenheit arbeitet, ist neu für das Genre. Es ist, als würde sich der Tiger zahnlos zeigen. Nun muss 'Titanic' nicht die Mutprobe machen und eine scharfe Mohammed-Karikatur auf Cover und Markt bringen. Was ärgert, ist anderes: Einerseits wird die nach 'Aufarbeitung' schreiende Wulff-Causa nicht angemessen hochgenommen."

Klingt eher etwas unentschieden. Zum einen bringt der Begriff "Mutprobe" das satiremagazinhafte Agieren im relativ jungen Genre der "Mohammed-Karikatur" ganz gut auf den Punkt. Zum anderen wirkt die Ausflucht, es sei, vulgo, wichtige satirische Arbeit im Falle Wulff liegengeblieben, etwas bemüht, ist doch die Wulff-Causa in ihrer Realität schon so kläglich, dass durch Überhöhung da kaum noch was gewonnen werden kann. Und zum dritten kann man den Titel durchaus verstehen – als das Kurzschließen zweier Aufreger der letzten Zeit, von denen er einer (Bettina Wulff) gesellschaftlich eher irrelevant ist.

Erwähnung findet auch die Begutachtung des Titanic-Covers im Innenministerium.

"Allerdings habe das Ministerium die 'Titanic'-Ausgabe auch nicht unter dem Vorbehalt einer möglichen Zensur begutachtet, sondern lediglich sicherstellen wollen, dass die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet ist."

Was man als Begutachter natürlich immer sagen würde, zugleich aber doch einen präziseren Begriff von dem liefert, was in ferneren Ländern schnell Zensur heißt.

Die Frage nach einem Gewinn der Meinungsfreiheit wird am Ende beantwortet:

"Alle 75.000 Exemplare der 'Mohammed'-Ausgabe waren am Donnerstag, einen Tag nach der Veröffentlichung, ausverkauft. Am heutigen Freitag soll eine neue Ladung nachgedruckter Ausgaben an die Kioske kommen."


ALTPAPIERKORB

+++ Wie man gedruckte Zeitungen finanziert, wird am Rande von Sebastian Molls Text über die linke US-amerikanische Zeitschrift "Mother Jones" erwähnt, die in der Berliner (Seite 26) portraitiert wird aus Anlass des Romney-Video-Publikation. Mother Jones war von Beginn an gemeinnützig organisiert, was dabei half, das Blatt "durch die Medienkrise der vergangenen Jahre zu steuern...Die Chefredakteurin Monika Bauerlein preist deshalb die Gemeinnützigkeit als Zukunftsmodell für den Journalismus: 'Die Medienkrise ist in erster Linie eine Krise des Profitstrebens', sagt sie regelmäßig bei Vorträgen." +++ Solche Gedanken würden Horizont-Chefredakteur Volker Schütz wohl zuletzt kommen. Er empfiehlt den Verlagen mehr Selbstbewusstsein: "Wie Selbstbewusstsein aussieht können viele Verleger auch von TV lernen. Deren Meinungsmacher lassen keine Gelegenheit zum Eigenlob aus und verweisen auf den trotz Internet steigenden TV-Konsum. Dass dies auch daran liegt, dass TV inzwischen für viele eine Nebenbei-Medium ist – es läuft halt so mit, wie in der Küche immer das Radio läuft – geht im Getöse des TV-Gattungsmarketings unter. Print hat Vergleichbares bis dato nicht vorzuweisen." +++ Ob das bei WAZ und DuMonts Berliner Verlag aktuell noch helfen könnte? Nicht nur die FAZ schreibt von Kürzungen. +++

+++ Riesenrezension in der Funkkorrespondenz von Dieter Stoltes Erinnerungsschocker, auf den Ulrike Simon unlängst in der Berliner so gar keine Lust gemacht hatte (siehe Altpapier). Rezensent Dietrich Schwarzkopf (als ehemaliger ARD-Programmdirektor letztlich ein Kollege) klopft das Buch vor allem auf Aussagen zum Einfluss der Parteien auf das ZDF ab: "Eine weitere Proporzinstitution sind die beiden politischen Freundeskreise (Union hier, SPD dort) in den ZDF-Gremien. Stolte bezeichnet sie als 'politische Strukturen von großem Einfluss, die weder in einer Rundfunkordnung noch in den Rundfunkgesetzen vorgesehen waren'. Zu den Besonderheiten dieses Systems gehört, dass die Vertreter gesellschaftlicher Gruppen außerhalb der beiden großen Parteien den Freundeskreisen zugeordnet und von ihnen 'betreut' werden. Dies geschieht nach dem einfachen Grundmuster: Kirchen und Unternehmer zur CDU, Gewerkschaften und Sozialverbände zur SPD. Stolte erwähnt, Vertreter aus Wissenschaft und Kultur machten da Schwierigkeiten." Frechdachse könnten sich die große Rezension also auch damit erklären, dass die FK als Asset des katholischen Filmdiensts dem CDU-Kreis zugeordnet wird, zu dem auch Stolte gerechnet wird. Der wird dadurch allerdings auch nicht mehr zum Sympathieträger: Dass ein Intendant nichts Besseres zu tun hat, als in einem Zug in Peru einen zufällig gefundenen NDR-Aufkleber durch einen ZDF-Aufkleber zu ersetzen und darauf so stolz zu sein, dass der "Lausbubenstreich" es in die Memoiren schafft, zeichnet ein recht trostloses Bild vom Geist einer gewesenen Führungsfigur, die Schwarzkopf gar "Philosoph" nennt. +++ Und gern hätte man natürlich gewusst, was Stolte zu Bernd Hellers Erklärungen sagen würde, die der ehemalige Sportstudio-Redakteur letzten Samstag in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen geäußert hat (und die die FK zitiert). Über sein Ende beim ZDF 1993 meint Heller: "Als unser damaliger Chefredakteur Klaus Bresser den Wunsch des Intendanten Dieter Stolte über eine Ablösung als Sportstudio-Moderator an mich herantrug, war mir klar, dass ich beim Zweiten keine Zukunft mehr haben werde." Als Grund gibt er seine Kritik am Umgang der bundesdeutschen Funktionäre mit dem Thema Doping an. Auch hier noch ein Zugerlebnis, auch ungeheuer sympathisch: "Michael Steinbrecher, mit dem ich noch zwei Jahre zusammengearbeitet habe. Ich bin mal auf einer Bahnfahrt in ein Abteil zugestiegen, in dem er saß. Er tat so, als würde er mich nicht kennen und hat später das Abteil grußlos verlassen." +++

+++ In der SZ (Seite 35) schreibt Claudia Tieschky über die große Nähe von Sat.1 und dem eigentlich rausverkauften N24: "Die Frage der Unabhängigkeit ist zwei Jahre nach dem Verkauf von aktueller Bedeutung: N24 hätte gern Lizenzen, um Programme als unabhängiger Dritter herzustellen – und zwar ausgerechnet im Programm von Sat1." +++ David Denk kritisiert in der TAZ die scheinheilige Solidarität von Springers heißem Blatt mit Jenny Elvers-Elbertzhagen. +++

+++ Ebenfalls in der TAZ: ein seltener Hinweis auf ein Radiohörspiel, in diesem Fall Walter Ruttmanns "Weekend" von 1930 (BR2, 21.03 Uhr). +++ Jochen Meißner schreibt, man kann es nicht oft genug verlinken, in der FK einen großen Text über die elendige Lage von Hörspielen (gilt wohl auch für Feature), die auch deshalb nicht tradiert werden können, weil sie nicht zugänglich sind und die Diskussion fehlt. Letztere, so Meißner, wird auch von den Broschüren geleistet wird, an denen die öffentlich-rechtlichen Radiosender jüngst sparen. "Aus denen kann man nicht nur dramaturgische Zusammenhänge und Konzepte entnehmen, sondern wird auch noch in Jahrzehnten die Programmgeschichte nachvollziehen, wenn alle Internet-Inhalte aufgrund rundfunkrechtlicher Vorschriften schon längst wieder depubliziert worden sind." +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder gegen 9 Uhr.

 

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