Die Vergangenheit ist die Zukunft

Die Vergangenheit ist die Zukunft

 

Sind Journalisten diskussionsfeindlich? Sind Blogger zu leise? Außerdem: Worauf sich Journalisten früher trotz Generationenkonflikt einigen konnten.

Der Dozent, Blogger und künftige Lehrbuch-Herausgeber Christian Jakubetz holt in seinen Ansichten eines Medienmenschen gern zu einem Rundumschlag zur Zukunft des Journalismus aus und liest Kollegen die Leviten. Gestern war es mal wieder so weit:

„Diskussion, Rückkopplung, Kuratieren, Moderieren (sind) für viele Journalisten immer noch merkwürdige Begriffe (...). Sie müssten es einmal selbst erlebt haben: wie man möglicherweise als Blogger mal auf den Grill gelegt wird, wie man nachts noch bei Twitter oder Facebook (oder eben im eigenen Blog) noch in eine Diskussion gezogen wird. Wie man auf der anderen Seite aber eben auch selbst Themen setzen kann, wie man von Usern, Freunden, Lesern inspiriert wird. Das ist es, was Journalismus heute ausmacht.“

Unter den Teilnehmern des re:publica-Kongresses in Berlin würde man wohl viel Zustimmung erhalten für diese These. Jakubetz ist allerdings nicht vor Ort, inspiriert zu seinem sehr weit ausholenden Beitrag hat ihn aber eine Wortmeldung von der Veranstaltung, und zwar eine von Sascha Lobo, dem bekanntesten re:publica-Wortmelder. Der meint nämlich, die hiesigen Blogger seien entweder zu doof oder zu leise. Jakubetz‘ Kommentar dazu:

„Blogger, die laut sind, gibt es mehr als genug. Gelesen und wahrgenommen werden sie trotzdem nicht. Und kluge Blogger, die dennoch nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit schreiben, gibt es auch genügend. Leider.“

Eine „Zwischenbilanz“ des Kongresses - schließlich ist heute ja noch einiges los im und rund um den Friedrichstadtpalast - zieht der Tagesspiegel. Was Peter Sunde, der bei der re:publica gastierende Spiritus rector des Bezahlsystems Flattr, so plant, steht in der taz. Einen Überblick über die Netzberichterstattung zur Veranstaltung findet sich bei freitag.de

Erfreulich für alle Republicaner: die Position Cruz Villalóns, Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, zu Internetsperren. Der Blog e-comm berichtet: „So weit man dies beurteilen könne, so der Generalanwalt, scheine kein System von Internetfiltern und Internetsperren in einer den Anforderungen der Art. 11 und 52 Abs 1 der Grundrechtecharta gerecht werdenden Weise garantieren zu können, dass ausschließlich spezifisch unzulässige Inhalte blockiert werden.

Auf einem anderen Medienkongress hat Tim Currie (University of King‘s Cole, Hailfax/Kanada) einen Vortrag gehalten, den nun das Nieman Journalism Lab dokumentiert. Sein Thema: Wie sollen Zeitungen das soziale Netzwerk Foursquare nutzen? Nicht auf einem Kongress, sondern in einer New Yorker Buchhandlung diskutierten Redakteure des amerikanischen Rolling Stone allerlei durchaus Kongresswürdiges. Zum Beispiel: Wie das wirkt sich das veränderte Mediennutzungsverhalten auf die Akzeptanz langer Texte aus? Quintessenz der Debatte: „At least some panelists suggested that long-form writing has become more, not less, important under the tyrannical reign of the 24-hour news cycle.“

So gesehen, ist die Vergangenheit, die die frühere Frankfurter-Rundschau-Redakteurin Ina Hartwig in einem Nachruf auf ihre Ex-Zeitung beschreibt, in gewisser Hinsicht auch die Zukunft. Sie erzählt im Freitag davon, wie es in den Jahren 1997 ff. war, sich mit älteren, männlichen Rotwein-Connaisseuren zusammenzuraufen, denen es vermutlich nicht mehr vergönnt sein wird, noch einmal als Blogger auf den Grill gelegt zu werden:

„Wir zogen noch im Zenit des Generationenkonflikts letztlich am gleichen Strang, was das Grundsätzliche angeht. Beispielsweise stellte niemand die Berechtigung von Texten in Frage, die damals – man glaubt es kaum – bis zu 20.000 Zeichen zählen konnten; das war eine ganze Seite (im alten, „nordischen“ Format) über den Einfluss von Emile Zola auf Michel Houellebecq, über das Marzipanhafte im Stil José Lezama Limas oder über die Schönheit des Provisorischen in der amerikanischen Landschaft ...“

[listbox:title=Artikel des Tages[Die rotweinseligen 20.000-Zeichen-Zeiten bei der FR (Freitag)##Heikles Thema Vagina (meedia)##Springer gegen den Euro (Spiegelfechter)]]

20.000 Zeichen? Ha, die schafft Georg Seeßlen, der Großmeister der Langform auf Zeitungs- und Zeitschriftenpapier, an besseren Tagen doch vorm Frühstück - wenngleich er eher selten über „Marzipanhaftes“ reflektiert. Im aktuell für die Jungle Word verfassten Aufsatz (Co-Autor: Markus Metz; Text wird im Laufe des Tages freigeschaltet) schreibt er über „Tsunamis am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die Katastrophe und ihre Bilder“:

„Das Katastrophenbild, das macht es so gefährlich, ist einerseits so emotional aufgeladen und andererseits so semiotisch dekonstruiert, dass es extrem offen wird für eine ideologische und auch propagandistische Aufladung. Es war ein Grundzug der faschistischen Propaganda, Bilder voller Chaos, voller Mehrdeutigkeit, voller Gewalt und Widerspruch, Bilder am Rande der Lesbarkeit, mit jenen zu verschmelzen, die Ordnung, Sauberkeit und Lesbarkeit versprachen.“


Altpapierkorb

+++ Grundsätzliches zur TV-Kritik formuliert Barbara Schweizerhof im Medientagebuch des Freitag: „Wer die Krise der Fernsehkritik ausruft, sollte heute ins Netz schauen, und er wird finden, dass noch nie so viel Kluges, Interessantes und Erhellendes übers Fernsehen geschrieben wurde“. Das gelte vor allem „im anglophonen Raum“: „Von ‚American Idol‘ bis zu ‚How I Met Your Mother ‚wird dort im schnellen Nachklapp Episode für Episode detailliert besprochen und nach Veröffentlichung noch von willigen Kommentatoren massenhaft mit Anmerkungen versehen. Für eine Qualitätsserie wie ‚Mad Men‘ lässt sich auf der Onlineseite der Vanity Fair zu diesem meist nächtlichen Dienst gar ein namhafter Kolumnist wie James Wolcott herab.“

+++ "ARD und ZDF sollen und wollen jünger werden, aber nicht um jeden Preis“ - das ist das Thema des vierseitigen Leitartikels von Tilmann P. Gangloff in der Funkkorrespondenz. Wie das gehen soll mit der Verjüngung, und wie es garantiert nicht klappt - dazu äußern sich mit ARD-Programmdirektor Volker Herres, WDR-Fernsehdirektorin Verena Kulenkampff und ZDF-Fernsehspielchef Reinhold Elschot diverse Großkopferte. Letzterer hat zum Beispiel „die 14- bis 20-Jährigen abgeschrieben: ‚Würden wir verstärkt versuchen, die zu erreichen, gingen uns die älteren verloren.‘“

+++ Journalismus und Kriminalität: Das britische Blatt News Of the World befindet sich gerade wegen einer so genannten Phone-Hacking-Causa in schweren Turbulenzen. Der Guardian berichtet hier und hier. Einige Journalisten wurden bereits verhaftet, zuletzt James Weatherup.

+++ „Gelungen, weil es in jeder Hinsicht irgendwie kracht“, ist Burdas neues Frauenmagazin Cover, meint Katharina Riehl (Süddeutsche). Der in dieser Kolumne schon häufig gewürdigte Dichter und Denker Stefan Winterbauer rezensiert für meedia Women‘s Health, eine andere neue Frauenzeitschrift: „Die eigentliche Überraschung des Heftes findet sich (..) ganz hinten, relativ gut versteckt und ganz ohne Teasing auf dem Titel. Da traut sich die Redaktion unter dem Schlagwort ‚Intime Erkundung‘ eine Geschichte zum Thema Vagina zu machen und schafft es, das heikle Thema ganz ohne Peinlichkeiten oder Zoten abzuhandeln und sogar originell zu bebildern (u.a. mit Fotos von Früchten, Blüten oder einem Schminktäschchen).“ Heikles Thema Vagina! Mehr Entertainment hat nur noch Lorenz Jäger in der FAZ (S. 35) zu bieten: „‘Verschwörungstheorie‘ ist ein Wort, vor dem nur noch kleine Kinder erschrecken sollten“, lautet sein alles nieder stampfender Schlusssatz einer Nachbetrachtung zu einer 3-sat-Doku über den niederländischen Rechtsaußen Geert Wilders.

+++ Wie findet es eigentlich das deutsche Rechtsaußen-Blättchen Junge Freiheit, „dass zurzeit in der arabischen Welt Diktaturen zusammenbrechen“? Erwartungsgemäß eher nicht so schön, wie diese ausführliche Analyse zeigt.

+++ Der Spiegelfechter kritisiert anlässlich eines kürzlich erschienen „Verwirrstücks“ in der Welt die Berichterstattung des Hauses Springer über den Euro: „Es ist ja nicht neu, dass die beiden Springer-Zeitungen Bild und Welt stets die Klassenbesten sind, wenn es darum geht, den Euro niederzuschreiben. Im Hause Springer scheint man sich eine ultraharte Währung zu wünschen und wenn dies schon nicht mehr die ‚gute alte D-Mark‘ sein kann, so soll der Euro doch bitte die legendäre Stärke der D-Mark übernehmen.“ Was unter anderem auffällt: „Wenn Journalisten über den Wert von Währungen schreiben, vergessen sie meist, dass es sich bei den immer wieder zitierten Kursen um Wechselkurse handelt.“

+++ Vermischtes aus der weiten Welt der Medienökonomie: „Die NDR-Produktionstochter Studio Hamburg stellt sich auf die Spar-Etats der Sender ein“ (Süddeutsche, S, 15). Die FAZ berichtet: „Die deutschen Verlage Gruner+Jahr, Burda und WAZ binden sich bis 2018 ans Presse-Grosso-System (...) Die Verlage können von kommendem Jahr an im deutschen Presse-Einzelhandel Summen in zweistelliger Millionenhöhe einsparen.“ Auch bald noch besser geht es Stefan Raab. Für einen neuen Vertrag soll seine Firma Raab TV von Pro Sieben 185 Millionen Euro kassieren. Damit beschäftigen sich heute unter anderem zwei Haudegen des Medienjournalismus, nämlich Hans Hoff (Süddeutsche) und Joachim Huber (Tagesspiegel)

+++ Zum Sport: 185 Millionen Euro würde die Deutsche Fußball-Liga (DFL) bestimmt irgendwann einmal gern bei der Auslandsvermarktung erzielen. Weil „wir zurzeit die am stärksten wachsende Liga“ sind (DFL-Geschäftsführer Christian Seifert), „liegen die Auslandserlöse der Vermarktungstochter DFL Sports Enterprises in der Saison 2011/12“ aber wenigstens „erstmals über 50 Millionen Euro“, berichtet der Tagesspiegel. Dass das ZDF dank 50 Millionen Euro gerade Sat 1 besiegt hat, nämlich im Kampf um die Champions-League-Rechte, sei „eigentlich ein Fall für unsere Rundfunkräte“, glaubt der Film- und Fernsehproduzent Günther Rohrbach. Die FAZ - wer sonst? - gibt ihm Raum für seine Argumentation. „Oberlehrerhaft“ beziehungsweise „kaiserlos pampig“ fand Jochen Hieber (ebenfalls FAZ) das Verhalten des Sat 1-“Experten“ Franz Beckenbauer gegenüber Schalkes Star Raul bei der Champions-League-Übertragung am Mittwoch. Ebenfalls vom Kollegen Hieber stammt eine Einstimmung auf die ab morgen bei Eurosport zu sehende Snooker-WM, präpariert dafür hat er sicht mit einem Snooker-Roman. Die taz schließlich berichtet über die heute an den Start gehende Sportsparte der Nachrichtenagentur dapd.

Neues Altpapier gibt es am Montag.

 

 

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