Depri und Depression - "Kunst des Scheiterns wäre wichtig"

Depri und Depression - "Kunst des Scheiterns wäre wichtig"
Die neue Wehleidigkeit und die steigenden Depressionszahlen: Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Der Sozialpsychologe Rolf Haubl über ein neues Schamgefühl, gekonntes Scheitern und die jüngsten Erkenntnisse aus der Schwermutsforschung.
11.11.2009
chrismon
Die Fragen stellte Christine Holch

Frage: Kann man als Laie unterscheiden, ob jemand traurig ist oder depressionskrank?

Rolf Haubl: Der Laie denkt ja, dass man Depressive daran erkennt, dass sie immer nur klagen...

Frage: ...keiner mag mich, ich kann nichts, es wird nie besser...

Haubl: Genau. Aber Depressive erkennt man oft nicht daran, was sie inhaltlich sagen, sondern wie sie sprechen - wenig moduliert, mit einer emotionslosen Stimme. Natürlich sprechen depressive Patienten oft eher vom Scheitern. Und sollte ihnen doch was gelingen, sagen sie, das ändere nichts an ihrer Befindlichkeit. Dieses Gefühl, gelähmt zu sein, gehört zu den meisten Depressionen.

"Depressive sind nicht tief traurig"


Frage: Das heißt, ein trauriger Mensch ist auch mal aufheiterbar, ein depressiver nicht, auch nicht durch Urlaub oder Freunde.

Haubl: An seiner Befindlichkeit ändert sich nichts. Generell sind Gefühle bei Depressiven abgedämpft. Laien denken, Depressive seien tief traurig. Das sind sie aber nicht. Denn zur Traurigkeit gehört ein Moment von Hoffnung; wer trauert, befindet sich in einem Prozess mit Höhen und Tiefen, und er sieht den Zusammenhang zwischen seinem großen Verlust und seiner großen Trauer. Bei Menschen mit einer Depression aber gibt es eine Diskrepanz zwischen dem manchmal durchaus kleinen Anlass und der heftigen Art, wie sie darauf reagieren.

Frage: Was wäre ein kleiner Anlass?

Haubl: Zum Beispiel ein minimales Scheitern im Beruf - ein erwartetes positives Feedback bleibt aus oder ein Meeting lief schlecht. Ein Nichtdepressiver wäre zwar traurig, würde aber bald anfangen, konstruktiv zu denken: Ich hatte eine schlechte Tagesform, beim nächsten Mal bereite ich mich besser vor. So kommt er wieder aus der Verstimmung heraus. Einem Depressiven gelingt diese emotionale Selbstregulation nicht.

"Selbstdiagnosen hochproblematisch"

Frage: Depression und Verstimmung sind also ganz verschiedene Zustände. Nun gibt es aber heute einfache Listen von Beschwerden - die der Hausarzt abfragt oder die man als Selbsttest im Internet ausfüllt -, und da scheint dieser Unterschied zu verschwinden. Wer da länger als zwei Wochen gedrückter Stimmung ist, schnell ermüdet und sich schlecht konzentrieren kann, gilt schon als depressiv. Zu Recht?

Haubl: Ich finde diese Selbstdiagnosen hochproblematisch, weil dadurch leicht der Eindruck entsteht, dass die normalen Verstimmungen, die jeder von uns hat, bereits krankheitswertig seien. Diese Tests überschätzen - verglichen mit einem längeren Gespräch mit einem erfahrenen Psychiater oder Psychotherapeuten - die Depressionsrate in der Regel.

Frage: Aber das Kompetenznetz Depression, das vom Bundesforschungsministerium gefördert wird, verbreitet diese einfache Symptomliste unter den Hausärzten und -ärztinnen. Warum tun die das?

Haubl: Weil die erste Anlaufstelle von Patienten der Hausarzt ist. Und wir wissen aus vielen Studien, dass nicht geschulte Hausärzte viele Depressionen übersehen. Auch weil sich ein Großteil von Depressionen in körperlichen Symptomen zeigt.

Frage: Die Menschen klagen über Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit ...

Haubl: Und die meisten Hausärzte behandeln erst einmal die körperlichen Symptome. Deshalb will das Netzwerk Depression Allgemeinärzte für die verschiedenen Ausdrucksformen von Depressionen sensibilisieren. Mittlerweile haben viele Hausärzte diese Schulung gemacht, und das hat in der Tat die Diagnosetreffsicherheit verbessert.

"Stabile Beziehung für Frauen eher ein Risiko"


Frage: Das heißt, man erkennt jetzt mehr der depressiven Patienten?

Haubl: Ja, vor allem Männer.

Frage: Bislang hieß es, dass doppelt so viele Frauen wie Männer an Depression erkranken.

Haubl: Dafür kann es verschiedene Gründe geben, auch den, dass die Depression bei Frauen überschätzt wird. Frauen zeigen schon von ihrer traditionellen Geschlechtsrolle her eine größere Zurückgenommenheit. Aber sie sind auch tatsächlich stärker belastet, weil sie nach wie vor den Großteil der Beziehungsarbeit in einer Familie leisten. So ist eine stabile Beziehung für Männer eher ein Schutzfaktor, für Frauen dagegen eher ein Risiko.

Frage: Warum übersieht man bei Männern so oft eine Depression?

Haubl: Männer präsentieren ihre Depression meist auf eine andere Weise: Sie zeigen sich fast zwanghaft als leistungsfähig, und zwar weil sie permanent ihre Gefühle verleugnen, vor allem die bindungsnahen Gefühle. Weil solche Gefühle im traditionellen Männerbild als Schwäche gelten.

Frage: Muss man Männer nach ganz anderen Symptomen fragen?

Haubl: Ja, zum Beispiel: Wie ist das, wenn Sie Pause machen? Entspannen Sie sich überhaupt? Worüber ärgern Sie sich? Man hat nämlich festgestellt, dass die männliche Depression stark mit einer unterschwelligen Feindseligkeit einhergeht, was es bei Frauen so nicht gibt. Wenn man entsprechend fragt, verringert sich die Differenz zwischen depressiven Frauen und Männern deutlich.

Maskierte Depression

Frage: Dann sind die Checklisten ja doch nützlich!

Haubl: Meiner Meinung nach sind sie eher problematisch, weil sie Fehldiagnosen produzieren. So ein Fragebogen fragt zum Beispiel nach Ermüdbarkeit ganz allgemein, aber die Ermüdbarkeit eines Menschen, der den ganzen Tag geschafft hat, ist eine andere als die eines Depressiven - der oft schon erschöpft ist, bevor er überhaupt etwas tut.

Frage: Es soll aber auch überagile Depressive geben, die man ebenfalls schlecht erkennt.

Haubl: Das sind die mit einer maskierten Depression. Da treffen Sie auf eine Person, die ein Ausbund an Energie ist, permanent unterwegs. Aber sie kommt nie zur Ruhe. Weil sie befürchtet: Dann breche ich zusammen. Um diese Angst nicht zu erleben, ist sie extrem agil - eigentlich dauernd auf der Flucht.

Frage: Heute sagen viele Leute selbst: Ich habe eine Depression ...

Haubl: Wir haben in der Zwischenzeit eine Kultur, wo der Depri kultiviert wird, wo viele das Gefühl haben: Mein Leben ist so anstrengend geworden, so freudlos, früher war alles besser ...

"Wir haben viel, viel höhere Erwartungen heute"

Frage: Sind wir wehleidiger geworden?

Haubl: Wehleidiger in diesem Sinne: Wir haben viel, viel höhere Erwartungen an das, was die moderne Zivilisation uns eigentlich alles ersparen müsste, wie gut es uns eigentlich gehen müsste. Weil wir - zum Beispiel im Fernsehen - versorgt werden mit Modellen von einem außerordentlichen Leben: was da alles hineingepackt werden kann, was es für Genüsse gibt. Menschen, die sich an diesem Maßstab messen, erleben ihr Leben natürlich als fad. Aber das sind Verstimmungen. Menschen mit einer echten Depression sind davon meilenwert entfernt.

Frage: Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagt, dass auch die echten Depressionen stark zunehmen. Sie hat - mit Hilfe der Checkliste - große Bevölkerungsgruppen befragt. Was meinen Sie, leiden heute mehr Menschen an einer Depression?

Haubl: Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Es kann sein, dass man durch eine größere Sensibilität gegenüber den Symptomen mehr Depressive entdeckt. Aber Diagnosen sind Urteilsprozesse, bei denen man sich auch täuschen kann.

Frage: Vielleicht befördern heutige Lebensumstände Depressionen?

Haubl: Es könnte sein, dass die Anlässe für einen depressiven Schub zugenommen haben. Aber man muss zwischen dem Anlass für eine Depression und der eigentlicher Ursache unterscheiden. Anlässe für einen depressiven Schub sind vor allem Erlebnisse von Kränkung und Verlust - Verlust nicht nur einer geliebten Person, das kann auch die Heimat sein, aus der ich wegziehe, oder ein Wertsystem, was erschüttert wird. Oder der Anlass sind Kränkungen, weil es zwischen dem, was ich sein möchte, und dem, was ich tatsächlich bin, eine große Diskrepanz gibt.

"Verlust- und Kränkungserlebnisse nehmen zu"

Frage: Erleben heute mehr Menschen eine Diskrepanz zwischen dem, was sie sein möchten, und dem, was sie sind?

Haubl: Man kann mit einer gewissen Plausibilität sagen, dass sich in modernen Gesellschaften, die sehr auf Wachstum und Umbruch aus sind, Erlebnisse von Verlust und Kränkung mehren.

Frage: Umbruch heißt, es gibt viele Herausforderungen und damit auch viele Möglichkeiten zu scheitern?

Haubl: Ja. Aber die Menschen reagieren nicht alle auf die gleiche Weise auf ein Ereignis. Menschen, die mit einer Depression reagieren, bringen schon eine bestimmte Verletzlichkeit mit. Weil sie meist schon früh in ihrem Leben Verluste und Unsicherheit erfahren haben, als sie noch keine stabilen Abwehrmechanismen hatten. Das war eine Überforderung. Und von den Neurobiologen haben wir gelernt, dass sich das Nervensystem bei ständiger Überforderung auf eine bestimmte Weise umbaut. So dass Menschen mit einer solchen Verlustgeschichte eine leibliche Bereitschaft mitbringen, auf ähnliche Ereignisse im Laufe ihres Lebens immer mit der maximalen depressiven Reaktion zu reagieren. Letztlich, um sich zu schützen, sich aus dem Spiel zu nehmen.

Frage: Es gibt mehr Anlässe für eine Depression, aber ob es auch mehr Menschen mit einer depressiven Verletzlichkeit gibt, weiß man nicht. Was weiß die Depressionsforschung denn dann?

Haubl: Wir wissen zum Beispiel, dass eine Verschiebung in den Depressionsformen stattgefunden hat. Früher gab es vor allem Depressive, die sich - religiös fundiert - permanent selbst anklagten, ein unmoralisches Leben zu führen, sündig zu sein. Das nimmt ab. Was zunimmt, sind Klagen darüber, nicht das zu erreichen, was man von sich selbst erwartet. In unseren Breiten hat so etwas wie eine Säkularisierung der Depression stattgefunden.

"Scheitern ist etwas anderes als Erfolglosigkeit"

Frage: Wie kommt das?

Haubl: Depressive betreiben immer eine Auseinandersetzung mit den geltenden gesellschaftlichen Werten. In einer Gesellschaft, in der die Werte religiös-moralisch fundiert sind, treffen Sie auf Depressive, die ihre Klage religiös-moralisch grundieren. Und in einer Gesellschaft, in der das oberste moralische Prinzip die persönliche Leistung ist, treffen Sie eher auf Depressive, die sich anklagen, persönlich versagt zu haben - ohne jede religiöse Beimischung.

Frage: Dann ist heute Scheitern ein großes Thema?

Haubl: Ja, und Scheitern ist etwas anderes als Erfolglosigkeit. Bei Misserfolgen kann man zur Entlastung sagen: Nicht ich bin schlecht, sondern ich hab nur ungeschickt gehandelt oder die Umstände waren hinderlich. Beim Scheitern aber geht es um die ganze Person, die hinter selbst gesteckten Zielen zurückbleibt.

Frage: Ich bin also ganz allein verantwortlich?

Haubl: Die Gesellschaft sagt nicht mehr: Tu das und das. Die Gesellschaft sagt eher: Mach, was du willst, aber mach es erfolgreich! Und wenn man dann keinen Erfolg hat, heißt es: Das hast du dir selbst eingebrockt, jetzt musst du auch mit deiner Niederlage allein fertig werden! Diese Konstellation beobachtet man gehäuft erst seit den frühen 90er Jahren, auch weil die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr so funktionieren, wie das früher der Fall war.

"Wir bräuchten eine Debatte über gelungenes Leben"

Frage: Wie gehen die Menschen mit ihrem Scheitern um?

Haubl: Das wissen wir noch nicht genau. Aber wir beobachten eine Verlagerung vom Schuldgefühl zum Schamgefühl. Früher war die größte Angst, den gesellschaftlichen Normen nicht zu entsprechen. Wenn man Normen brach, fühlte man sich schuldig. Heute wird Nonkonformität geradezu erwartet: Mach etwas, was die anderen noch nie gemacht haben - etwa im Geschäft -, dann wirst du Erfolg haben. Und wenn sich dann zeigt, dass ich den Mund zu voll genommen habe, dann habe ich mich nicht schuldig gemacht, sondern ich muss mich schämen. Das modernere Gefühl ist also das Schamgefühl.

Frage: Scheußliches Gefühl!

Haubl: Ja, denn zur Scham gehört, dass man sich unsichtbar macht, dass man verschwindet. Es gibt auf Effizienz getrimmte Unternehmen, etwa im Finanzwesen, da werden Sie dreimal im Jahr evaluiert, Sie bekommen also bestimmte Punktwerte; und wenn Sie zweimal hintereinander nicht einen höheren Punktwert erreicht haben als vorher, dann wird Ihnen nicht gekündigt, sondern es wird erwartet, dass Sie gehen. Und diese Menschen gehen dann auch. Weil sie sich so schämen, nicht mithalten zu können.

Frage: Meinen Sie, wir können irgendwann besser mit häufigem Scheitern umgehen?

Haubl: Selbst wenn wir das könnten, ist doch die Frage, ob wir dann so leben wollen. Wir bräuchten eine Debatte über gelungenes Leben. Im Moment wird die Bevölkerung eher überfallen von gesellschaftlichen Umbrüchen - von Ökonomisierung, vom Abbau des Sozialstaates. Es gibt keine Debatte darüber, wer das gutheißt, wer es nur gezwungenermaßen mitmacht, und wer vielleicht bereit wäre, auf etliches zu verzichten, damit das Leben entschleunigt würde, damit man mehr Zeit für Kinder hätte. Solch eine Wertedebatte wird vermieden, weil sie mit Fragen des Maßfindens, des Verzichtens und ähnlichen unangenehmen Dingen zu tun hätte.

"Kunst des Scheiterns wäre wichtig"

Frage: Was könnte der Einzelne tun - die Kunst des Scheiterns erlernen?

Haubl: Eine Kunst des Scheiterns wäre wichtig für die eigene Lebenszufriedenheit. Dass ich die Balance hinkriege zwischen dem, was ich sein möchte, und dem, was ich zu einem bestimmten Zeitpunkt sein kann. Dass ich eine Spannung hinkriege, die mich in Bewegung hält, ohne mich zu zerreißen. Und sie hält mich dann in Bewegung, wenn ich mir etwas vornehme, was über dem liegt, was ich tatsächlich schon habe und kann, aber auch nicht so weit davon entfernt ist, dass ich eigentlich nie wieder Erfolg habe.

Frage: Aber ich werde ja trotzdem gelegentlich Misserfolge haben.

Haubl: Deshalb müssen Sie dafür sorgen, dass Sie in einem sozialen Netzwerk verankert sind - Freunde, Familie, die schätzen können, dass man sich Großes vornimmt und es doch nicht erreicht, die Anteil nehmen, ohne Sie einfach zu schonen. Es ist ja auch furchtbar, Leute um sich zu haben, die einem alles absegnen.

Frage: Was hilft denn jetzt den wirklich De ressiven? Allein in den letzten fünf Jahren hat sich die Verschreibung von Antidepressiva verdoppelt. Eine übergreifende Studie hat jetzt aber ergeben,  dass Antidepressiva nicht deutlich wirksamer sind als Placebos. Und nun?

Haubl: Ich spreche jetzt mal nur von den Menschen mit schwerer Depression. Da wissen wir schon seit langem, dass nicht wenige dieser Menschen auf keinerlei Behandlung ansprechen. Aber auch wenn sie ansprechen, heißt es doch meist, mit der Neigung zur Depression leben zu lernen. Antidepressiva sind sicher wirksam, aber es ist nicht leicht, die Patienten medikamentös richtig einzustellen, auch weil sie oft verschiedene Störungen gleichzeitig haben, etwa eine Angststörung.

"Bei schwerer Depression Medikamente oft einzige Möglichkeit"

Frage: Und was ist mit denen, die "nur" eine Depression haben - Tabletten oder nicht?

Haubl: Bei schwerer Depression sind Medikamente oft die einzige Möglichkeit, eine so entspannte Situation herzustellen, dass man überhaupt eine Psychotherapie machen kann.

Frage: Nun gibt es zwei Psychotherapierichtungen: die kognitive Verhaltenstherapie und die psychoanalytische Psychotherapie. Die Verhaltenstherapie trainiert die Patienten, ihre Situation nicht so negativ einzuschätzen. Sie sollen Denkmuster wie "Alle sind gegen mich" auswechseln gegen "Alle sind mir gegenüber positiv eingestellt, und es liegt an mir, was ich daraus mache". Funktioniert das?

Haubl: Das funktioniert schon, weil es natürlich nicht so trivial umgesetzt wird, wie es in Ihrer Zusammenfassung klingt.

Frage: Dann bin ich schon nach 30 Stunden Therapie geheilt?

Haubl: Jein. Die Rückfallquote ist sehr hoch. Oder sagen wir vorsichtig: Sie kann sehr hoch sein. Die Verhaltenstherapie hat nicht den Anspruch, nachhaltig zu wirken, sondern sie will die belastenden Symptome zum Verschwinden bringen. Das beinhaltet das Risiko, dass Sie nach drei oder fünf Jahren erneut einen depressiven Schub haben.

Frage: Warum bevorzugen Krankenkassen die Verhaltenstherapie?

Haubl: Weil sich unser Gesundheitssystem im Moment sagt: Na gut, dann hat der eben in fünf Jahren wieder eine Depression, aber das fällt ins nächste Budget, jetzt ist die Verhaltenstherapie erst einmal billiger als eine längere psychodynamisch orientierte Therapie - lieber viermal im Leben 30 Stunden als einmal im Leben mehrere hundert Stunden. Aber auf lange Sicht ist das vermutlich teurer, auch gesellschaftlich,  denn Sie müssen pro depressivem Schub mit einem Arbeitsausfall von Wochen rechnen.

"Psychoanalytische Therapie ist nachhaltig wirksam"

Frage: Es heißt aber, dass die Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapie nicht bewiesen sei.

Haubl: Das stimmt nicht. Diese Aussage hat viel mit Lobbyismus zu tun. Im Kompetenznetz Depression gibt es auch zu wenige Psychoanalytiker. Verhaltenstherapeuten und biologisch orientierte Psychiater sind gesundheitspolitisch einflussreicher. Es gibt aber hinreichend viele Studien mittlerweile, die sagen, dass die psychoanalytische Therapie wirksam ist, auch nachhaltig. Im Sigmund-Freud-Institut treiben wir solche Forschung voran.

Frage: Also soll auch jemand mit leichter Depression "auf die Couch"?

Haubl: Nein, das ist Unsinn, aber auch das wird immer falsch kolportiert. Die Psychoanalytiker sagen: Wir sind zuständig für schwere Depressionen, vor allem für solche, die gekoppelt sind mit anderen seelischen Störungen. Da sind wir erfolgreich. Die Studien über Verhaltenstherapie haben ja nur deshalb so gute Ergebnisse, weil man für diese Studien die Patienten extra aussucht, also nur Patienten mit einer reinen Depression nimmt. Solche Patienten sieht man in der Praxis aber nur selten.

Frage: Warum ist eine psychoanalytische Therapie nachhaltiger?

Haubl: Weil sie nicht nur auf die Symptome schaut, sondern sich für die Ursachen interessiert, dafür, wie die Anfälligkeit für eine Depression lebensgeschichtlich entstanden ist.

Frage: Sie suchen also nach den frühen Enttäuschungen im Leben?

Haubl: Ja. Sehr gut untersucht ist zum Beispiel, dass viele Depressive eine depressive Mutter - oder einen depressiven Vater - haben und dass Depressionen zwischen den Generationen weitergegeben werden. Babys lernen ja ihre eigenen Gefühle kennen, indem sie am Gesicht der Mutter ablesen, wie es ihnen selbst geht. Eine depressive Mutter reagiert aber nicht. Das Kind kann tun und lassen, was es will, es trifft immer auf eine ausdruckslose, starre Mutter. Und dann schützen sich diese Kinder, indem sie ihre eigene Lebendigkeit einstellen - damit sie nicht permanent diese Enttäuschung erleben.

"In früher Kindheit werden Weichen gestellt"

Frage: Nicht alle Depressiven hatten eine depressive Mutter, oder?

Haubl: Nein, das ist nur einer der Wege zur Depression. Ich wollte damit nur zeigen, dass wir wissen, dass in dieser frühen Zeit Weichen gestellt werden. Weichen, die zu einer Verletzlichkeit führen, die ein Leben lang reproduziert wird. Und jetzt kann ich mich als Patient entscheiden: Will ich mehrmals im Leben die Symptome beseitigen, oder möchte ich einmal im Leben - wenn es denn gelingt - meine "Programmierung" verändern?

Frage: Können auch Angehörige dem Depressiven was Gutes tun?

Haubl: Sie sollten wissen, dass sie ihn nicht aufheitern können und dass sie auf Dankbarkeit verzichten müssen. Sonst kommt eine Spirale in Gang: Ich tue alles, um meinen Partner aufzuheitern, aber der reagiert nicht, der kann nicht schätzen, was ich für ihn tue - das kränkt. Sie sollten zwei Dinge anerkennen: Erstens, dass es sich um eine echte Krankheit handelt und nicht um eine Böswilligkeit; zweitens, dass diese Krankheit schwer zu ertragen ist. Es ist richtiggehend eine Belastung und oft auch eine Überlastung. Es ist legitim, sich Urlaub von einem Depressiven zu nehmen. Nicht das eigene Leben einstellen! Nicht Schuldgefühle haben, wenn man sich selbst was gönnt!

Frage: Auch wenn jemand seine Depression überwindet, bleibt so etwas wie eine neurologische Narbe zurück, eine Verletzlichkeit. Hat dieser Mensch auch was gewonnen?

Haubl: Wenn wir den Blick mal erweitern von der Depression auf die Melancholie, auf Melancholie als eine Haltung, die sich seit der Renaissance in unserer Kultur besonderer Wertschätzung erfreut - dann sind Melancholiker Menschen, die eine Art von Weisheit haben, weil sie darum wissen, dass zwischen hohen Erwartungen und dem, was man im Laufe seines Lebens erreichen kann, eine Kluft ist, die womöglich auch bleibt.

Frage: Wird Melancholie heute immer noch wertgeschätzt?

Haubl: Wieder. Eigentlich ist Melancholie den Gesellschaften, die behaupten, sie hätten den Königsweg gefunden, immer verdächtig gewesen. Einem neoliberalen Geist etwa ist Melancholie verdächtig, weil der Melancholiker skeptisch ist gegenüber dem Kurzschluss, auf den Neoliberale setzen: dass Leistungsbereitschaft in einer Konkurrenzgesellschaft glücklich macht.


Dieses Interview erschien zuerst in der Zeitschrift "chrismon plus".