Auf dem rechten Auge blind?

Foto: dpa/Arno Burgi
Auf dem rechten Auge blind?
Eine Zwischenbilanz zum NSU-Prozess
Auch gut zwei Jahre nach der Aufdeckung der NSU-Morde scheint noch immer nicht alles gesagt und berichtet worden zu sein. Wer waren die Hintermänner und -frauen? Wieso haben die Behörden so lange in die falsche Richtung ermittelt, Akten zerschreddert, schlicht geschlafen? Der NSU-Skandal stellt eine Zäsur dar. Das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit scheint erschüttert. Auch Kirchengemeinden müssten sich entschieden gegen rechtes Gedankengut abgrenzen, sagte Martin Dutzmann, neuer EKD-Beauftragter bei der Bundesregierung, bei einem Diskussionsabend der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Die Journalistin und Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke stellt den Skandal um die NSU-Morde in eine lange Reihe rechtsextremistischer Straftaten, die von staatlichen Behörden nur mangelhaft verfolgt und von Spitzenpolitikern verharmlost worden seien. So ging etwa der Bombenanschlag auf das Oktoberfest 1980, bei dem 13 Menschen starben und über 200 zum Teil schwer verletzt wurden, auf das Umfeld der berühmten Wehrsportgruppe Hoffmann zurück.

Offiziell wurde aber der junge Geologiestudent Gundolf Köhler als psychisch debiler Einzeltäter festgestellt, der bei dem Attentat selbst ums Leben kam und nicht mehr befragt werden konnte. Ministerpräsident Franz-Josef Strauß gab die Schuld linken Gruppierungen. Niemals aber wurden die strukturellen Verbindungen zur Wehrsportgruppe untersucht. "Nur wenige Jahre später werden alle Asservate vernichtet. Nichts konnte mehr untersucht werden. Dieses Muster wiederholt sich oft. Bereits 1998 tauchen rassistische Gedichte von NSU-Mitglied Uwe Mundlos auf, landen in der Asservatenkammer und sind heute einfach verschwunden", berichtet Röpke.

Oft dasselbe Muster wie beim NSU

Die Liste rechtsextremistischer Taten ist lang. In Hamburg gründete sich Ende der 1970er Jahre die Aktionsfront Nationaler Sozialisten unter Michael Kühnen, die ein NATO-Depot in der Lüneburger Heide und Banken zur Finanzierung der eigenen Straftaten überfiel. "Auch hier zeigt sich wieder das Muster wie bei den NSU-Morden. Geld wird durch Banküberfälle besorgt", analysiert Röpke.

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Allein 1980 verübten die Deutschen Aktionsgruppen um Manfred Röder fünf Sprengstoff- und zwei Brandanschläge. Dabei starben zwei Vietnamesen an ihren Verbrennungen. Röder wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt und stieg zum Star der rechten Szene auf.

Bei einem Brandanschlag 1996 in Lübeck starben 10 Asylbewerber. Zwar wurden vier Tatverdächtige aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen dingfest gemacht, bei denen sich auch Schmauchspuren fanden, aber sie wurden wieder laufen gelassen. "Einer hatte behauptet, er habe eben seinen toten Hund verbrannt. Das hat die Polizei dann einfach geglaubt", schildert Röpke.

Sogar Eifersucht galt als Mordmotiv

Die Journalistin kann schier unendliche Beispiele rechter Aktivitäten bis zum europaweiten Netzwerk "Blood & Honour" und dessen militanter Abspaltung "Combat 18" auflisten. Und eben leider auch das oftmalige Versagen der Behörden bei der Bekämpfung rechtsradikaler Umtriebe.

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Auch Rechtsanwalt Peer Stolle, der die Dortmunder Familie des NSU-Mordopfers Mehmet Kubasic vor dem Münchner Oberlandesgericht vertritt, ist über die Fahndungsfehler erschüttert. Die Opferwohnungen wurden mit Drogenhunden durchsucht, in den Kiosken der Opfer wurde nach Steuervergehen gefahndet. Sogar Eifersucht galt als Mordmotiv. Dass es da einen "bio-deutschen" Radfahrer auf dem Video vor dem Nagelbombenanschlag in Dortmund gegeben hatte, war nie gleichberechtigter Teil der Ermittlungen.

"Was ist aber mit der Rehabilitierung der Opferfamilien? In der Schule wurden die Kinder beschimpft, der Vater sei bei der Mafia gewesen. Den Polizeibeamten scheint jegliche Fehlerkultur fremd. Selbst heute wird vor Gericht ein Negativ-Bild des Opfers dargestellt. Tun Sie doch nicht so, als ob es keine türkische Drogenmafia gebe, sagen Ermittler etwa. Aber es gab auch Beamte, die sich erst mal entschuldigt haben", berichtet Stolle aus dem aktuellen Münchner Gerichtsverfahren.

Dutzmann: "Wir brauchen eine viel stärkere Willkommenskultur"

Obwohl man schon beim 50. Verhandlungstag sei, gehe es bisher allein um die Rekonstruktion der Morde. Erst jetzt würden auch die NSU-Struktur und Hintergründe vor Gericht behandelt. Doch Journalistin Andrea Röpke glaubt nicht, dass es eine juristische Aufarbeitung geben wird. Zwar seien beim Münchner Prozess mehr als 600 Zeugen geladen, aber fast keiner von ihnen stamme aus der rechten Szene. So könne das hinter dem NSU stehende Neonazi-Netzwerk niemals aufgedeckt werden.

Diese Auffassung teilt auch der freie Journalist Ulli Jentsch vom Projekt "NSU-Watch", das jetzt für sein bürgerschaftliches Engagement den Otto-Brenner-Preis zuerkannt bekommt. "Die Soko Bosporus und die Landesbehörden zeigen eine systematische Ausblendung der rassistischen Tätermotive. Auch der Untersuchungsausschuss des Bundestages vermeidet in seinem  Abschlussbericht den Begriff Rassismus. Die Behörden erscheinen wie eine black box, in der das Schweigekartell herrscht", sagt Jentsch, der seit gut 20 Jahren das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum apabiz mit unterhält.

Martin Dutzmann, neuer EKD-Beauftragter bei der Bundesregierung, sieht bei der Bekämpfung des Rechtsradikalismus und Rassismus auch die Kirche in der Pflicht. "Wir sind Kirche eines Einwanderungslandes. Menschenverachtende Einstellungen finden sich eben auch in der Mitte der Gesellschaft. Wir brauchen eine viel stärkere Willkommenskultur", meint Dutzmann. Nicht nur in den Behörden sei viel mehr Präventionsarbeit nötig, um Beamte sensibler gegen die Gefahr von Rechts zu machen. Auch in den Gemeinden müsse man aufpassen und sich fragen, ob man sich dort entschieden genug gegen rechtes Gedankengut abgrenze.