Im Westerwald ist Reden in der Schule erwünscht

Mädchen lernen gemeinsam an einem Tisch
epd-bild/Thomas Frey
Glasfronten anstelle von Zwischenwänden und im Zentrum Barhocker und aus Paletten gebaute Polstersitze - die Berufsschule im rheinland-pfälzischen Westerburg ist kein ganz gewöhnlicher Ort.
Innovative Berufsschule
Im Westerwald ist Reden in der Schule erwünscht
Das deutsche Bildungssystem steht vor gewaltigen Herausforderungen. Viele davon wurden bislang kaum angegangen. Wie stark Schule sich verändern kann, wenn die Verantwortlichen vor Ort es wollen, zeigt ein Beispiel aus dem Westerwald.

Räume ohne Türen, Glasfronten anstelle von Zwischenwänden und im Zentrum Barhocker und aus Paletten gebaute Polstersitze - die Berufsschule im rheinland-pfälzischen Westerburg ist kein ganz gewöhnlicher Ort. In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Lernen und Unterrichten hier komplett verändert. In vielen Kleingruppen wird konzentriert gearbeitet. Für manche Lernfelder, die es hier anstelle der klassischen Fächer gibt, ist gerade gar keine Lehrkraft anwesend, in anderen Gruppen mehrere gleichzeitig.

"In anderen Schulen darf man quasi gar nicht reden", sagt Leo, der mit anderen Auszubildenden diskutiert, wie sich die Bauteile einer Bohrvorrichtung berechnen lassen. "Hier ist es erwünscht." Das deutsche Schulsystem machte in den vergangenen Jahren immer wieder Schlagzeilen, meistens keine guten. Für ein bundesweites Medienecho sorgten zuletzt die Zustände an einer Brennpunktschule in Ludwigshafen, wo Lehrkräfte um ihre Sicherheit fürchten und Polizei- und Feuerwehreinsätze fast schon Routine sind.

Auch an der BBS Westerburg mit ihren rund 2.500 Schülerinnen und Schülern gehen die sozialen Probleme vieler Familien nicht spurlos vorbei. So ist sie unter anderem auch zuständig für das sogenannte berufsvorbereitende Jahr und damit für Jugendliche, die an der allgemeinbildenden Schule keinen Abschluss geschafft haben. Dass ausgerechnet eine Berufsschule im ländlich geprägten Westerwald wegen ihrer innovativen Arbeit mittlerweile pro Jahr 30 bis 40 Besucher-Delegationen aus der gesamten Republik anzieht, hatte ursprünglich mit Brandschutzauflagen zu tun.

Die hätten größere Umbauten der Treppenhäuser nötig gemacht und erhebliche zusätzliche freie Flächen geschaffen, berichtet Schulleiter Michael Niess. Die Schule beschloss damals, gleich auch zahlreiche nichttragende Wände zu entfernen. Die abgeschlossenen Klassenräume gehörten fortan der Vergangenheit an. Doch die Umbauten waren nur der Anfang. Zunehmend habe es nämlich Probleme gegeben, Klassen für weniger nachgefragte Berufe wie Metzger oder Frisör zu füllen, berichtet Niess.

In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Lernen und Unterrichten hier komplett verändert, erklärt Michael Niess, Schulleiter der Berufsbildenden Schule Westerburg (BBS Westerburg).

Die Gefahr habe bestanden, für manche davon gar keinen Berufsschulunterricht vor Ort mehr anbieten zu können. Die Alternative, ins entfernte Koblenz zu fahren, sei kaum attraktiv für junge Leute: "Das macht etwas mit der Region. Denn dann sagen die Betriebe irgendwann, dass sie nicht mehr ausbilden können." Also, so der Beschluss in Westerburg, musste auch ein neues Unterrichtskonzept her - weg von den klassischen Klassengruppen und weg von der zentralen Rolle der Lehrkräfte.

Pausengong abgeschaltet

Auch einen festen Stundenplan gibt es an der Berufsschule inzwischen nicht mehr. "Sich Pausen von einem Gong vorschreiben zu lassen, ist eigentlich widersinnig", sagt der Schulleiter. Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in Teams zusammen, erstellen selbstständig ihre Vertretungspläne und entscheiden, in welchen Arbeitsgruppen sie gerade in welcher Stärke gebraucht werden. Arbeitsaufträge für die Schülerinnen und Schüler orientieren sich am Arbeitsalltag.

Im Kollegium, aber auch in der Elternschaft habe es anfangs große Widerstände gegen die Neuerungen gegeben, räumt Schulleiter Niess ein: "Da rannten nicht alle durch die Gänge und warfen Konfetti. Viele waren skeptisch." Zu den anfänglichen Bedenkenträgern gehörte auch der Lehrer Gunther Brinkmann. Die Rolle des "Alleinunterhalters" im Unterricht abzugeben, sei eine große Umstellung gewesen, sagt er.

Die Vorstellung, dass ständig Kolleginnen und Kollegen zuschauen, wie man seine Arbeit macht, habe vielen zunächst auch nicht behagt: "Aber man kann sich so auch gute Ideen abgucken."  Bereits 20 Jahre sind seit den ersten Reformen vergangen. Der Erfolg könne sich sehen lassen, findet Michael Niess.

So gebe es sogar für die jungen Leute aus dem berufsvorbereitenden Jahr eine sehr hohe Vermittlungsquote. Vandalismus oder Diebstähle seien ein geringeres Problem als anderswo, obwohl selbst iPads für den Schulgebrauch einfach so auf Rollwagen im Korridor herumstehen. Und obwohl die Gruppen ohne Türen und manchmal sogar ohne anwesende Lehrkraft arbeiten, geht es deutlich disziplinierter zu als an herkömmlichen Schulen. "Ich will nirgendwo anders mehr arbeiten", findet auch Lehrer Brinkmann.