Lasst mich weinen!

Pastorin spricht hinter dem Sarg bei Trauerfeier
epd-bild/Sascha Baumann
Redaktionspfarrer Frank Muchlinsky schreibt über sein Recht aufs Traurigsein.(Symbolbild)
Trauerkultur
Lasst mich weinen!
Wenn Trauer nicht erlaubt ist, wird Abschied zum Theater. Redaktionspfarrer Frank Muchlinsky will schwarz tragen, weinen und echt sein. Ein Plädoyer für traurige Trauerfeiern.

Sollte ich jemals eine Einladung zu einer Beerdigung bekommen, auf der es heißt, man solle doch bitte in bunter und möglichst "lebensbejahender" Kleidung erscheinen, werde ich in einem Dilemma sein. Einerseits möchte ich den Willen der verstorbenen Person oder auch der Angehörigen respektieren. Andererseits will ich mich nicht hell oder bunt anziehen, wenn jemand gestorben ist. Ich will nicht darüber nachdenken müssen, was ich zu einer Beerdigung anziehe, sondern selbstverständlich zu schwarzer Kleidung greifen im Wissen darum, dass alle das tun werden. Ich will während der Beerdigung nicht schauen, was die Leute so anhaben. Ich will dasitzen oder stehen und traurig sein, die Gedanken ganz auf die verstorbene Person gerichtet. Ich will in meine Trauer spüren und ausdrücken.

Noch schlimmer als das Verbot von Trauerkleidung ist darum die Ansage: "Seid nicht traurig!" Manche Sterbende schreiben solche Worte für die Überlebenden auf und meinen es sicherlich gut. Aber was ist das denn für eine Aufforderung! Ich bin tot, aber das soll euch nicht jucken? Es ist doch viel netter, wenn alle nicht so trübe aus der Wäsche schauen!? Ich wiederhole: Ich will traurig sein. Ich will aussehen wie drei, wie dreißig Tage Regenwetter. Ich will weinen.

Darum will ich auch an einem Sarg stehen und nicht an einer Urne, wenn ich Abschied nehme. Ich will mindestens ahnen können, dass da ein Mensch drin liegt, der mir etwas bedeutet hat. Ich will mich von diesem Anblick erschüttern lassen und schauen, dass ich mich traue, noch einmal ganz nah ranzugehen, den Sarg will ich mit den Fingern zu berühren. Damit auch die Hände merken, wie weh es tut, dass dieser Mensch jetzt tot ist.

Ich habe Verständnis dafür, dass Sterbende und ihren Angehörigen sich trösten möchten, indem sie ihren Blick auf das Leben und ins Licht richten. Gerade wenn das Sterben länger dauert, braucht es diesen Blick. Aber man muss nicht darum bitten. Meistens kommt die Heiterkeit ganz von allein. Bei der Trauerfeier aber soll sie sich eine Weile zurückhalten. Sie soll es aushalten, dass geschluchzt wird, dass die Stimme bricht beim Singen. O ja, gesungen werden sollte unbedingt auf jeder Beerdigung. Auf Musik lauschen, die mal der verstorbenen Person etwas bedeutet hat, ist auch gut. Weil man da innehält, sich in Erinnerungen verstricken lässt. Aber zu versuchen, selbst zu singen, obwohl man eigentlich nicht kann, es zu schaffen und dann vielleicht doch wieder zu abzubrechen und in Weinen auszubrechen – das ist würdiges Trauern. Würdig, weil es der Traurigkeit einen Ausdruck verleiht, weil es sie nicht wegdrückt. Wer sofort sagt: "Das Leben geht weiter", nimmt der verstorbenen Person etwas von ihrer Einzigartigkeit.

Darf man auf Trauerfeiern tanzen, wenn die verstorbene Person sich das gewünscht hat? Ja, natürlich, darf man das. Aber man darf auch hinfallen beim Tanzen, weinen und erstmal nicht mehr aufstehen wollen. Erlauben wir einander die Traurigkeit! Gewähren wir einander die Erschütterung, die der Tod in uns auslöst. Gönnen wir einander eine gemeinsame Zeit, in der es uns weh tut und in der wir uns fragen, worauf wir denn überhaupt noch hoffen sollen und können. Mit Tränen in den Augen will ich "Christ ist erstanden" singen, wenn der Sarg rausgetragen wird, oder bevor wir rausgehen und der tote Mensch dann in die Erde gelegt wird oder verbrannt. Dann mag aus dem Körper ein Diamant werden oder eine Wolke oder Dünger oder Knochen. Dann mögen bei Butterkuchen und belegten Broten heitere Geschichten aus dem Leben erzählt werden. Dann will ich wieder bunte Sachen anziehen und trösten und trösten lassen. Aber eben erst dann.