TV-Tipp: "Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen"

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23. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Überlebe wenigstens bis morgen"
Beim Brand in einem Mietshaus entdeckt die Feuerwehr eine Leiche; sie lag fast ein halbes Jahr lang unentdeckt in ihrer Wohnung. So etwas kommt vor, gerade in Großstädten, doch in der Regel betrifft das alleinstehende alte Menschen; Einsamkeit, stellt Kommissar Bootz fest, "ist kein Privileg der Alten mehr."

"Rücken Sie näher heran", sagt die junge Frau, "dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte." Erst sehr viel später wird sich in diesem "Tatort" aus Stuttgart herausstellen, dass ihre Aufforderung keineswegs dem Publikum gilt. Nelly Schlüter könnte ihre Geschichte ohnehin nicht mehr selbst erzählen, denn sie ist längst tot: Beim Brand in einem Mietshaus entdeckt die Feuerwehr ihre Leiche; sie lag fast ein halbes Jahr lang unentdeckt in ihrer Wohnung.

So etwas kommt vor, gerade in Großstädten, doch in der Regel betrifft das alleinstehende alte Menschen; Einsamkeit, stellt Kommissar Bootz fest, "ist kein Privileg der Alten mehr." Und nicht nur das: Junge Leute zwischen 18 und 27 sind mittlerweile die Altersgruppe, die am stärksten ständig oder zumindest häufig unter Einsamkeit leidet. 

Der Titel dieses Krimis zitiert eine Zeile aus dem Lied "Wenigstens bis morgen" von Gerhard Gundermann. Im Film ist dies der Name eines digitalen Selbsthilfeforums, in dem Menschen Hilfe finden, die mit ihrem Dasein nicht mehr klar kommen. Auch Nelly war hier Gast im Chat. Für Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare) stellt sich daher die Frage: Hat sich die junge Frau das Leben genommen oder ist sie ermordet worden?

Die Spurenlage ist nach so langer Zeit nicht eindeutig, auch wenn die Umstände der Strangulierung ("atypisches Erhngen") eher eine Gewalttat vermuten lassen. Mindestens genauso wichtig wie die kriminalistische Ebene ist jedoch ein ganz anderer Aspekt: Wie kann es sein, dass eine junge Frau über einen derart langen Zeitraum von niemandem vermisst worden ist, weder von den Eltern (Idil Üner, Robert Kuchenbuch) noch von der besten Freundin Fine (Trixi Strobel)? Bei ihrer Suche nach der Wahrheit rekonstruieren die Kommissare das betrübliche Dasein eines Menschen, der sich im Grunde das gleiche gewünscht hat wie alle anderen: geliebt zu werden; und bitter enttäuscht worden ist. 

Was unter anderen Umständen zum reinen Drama getaugt hätte, ist dank des Drehbuchs der erfahrenen Grimme-Preisträgerin Kathrin Bühlig ein Krimi, der es sich leisten kann, auf vordergründige Spannung zu verzichten. Dass die Handlung trotzdem fesselt, liegt an der detailliert geschilderten Ermittlungsarbeit. Besonders faszinierend ist die Bestimmung des konkreten Todeszeitpunkts. Der entsprechende Vortrag von Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) ist keineswegs so abschweifig, wie er selbst befürchtet, als er über die verschiedenen Insektenarten doziert, die im Verlauf des Verwesungsprozesses vorbeigeschaut haben. Auf diese Weise kann Vogt tatsächlich fast auf den Tag genau bestimmen, wann Nelly gestorben ist, und als dann auch noch ein Alibi platzt, scheint der Fall geklärt; aber so einfach macht es Bühlig den Kommissaren nicht. 

Regie führte Milena Aboyan. "Überlebe wenigstens bis morgen" ist nicht nur ihr "Tatort"-Debüt, sondern auch ihre erste Regiearbeit nach dem mehrfach ausgezeichneten Kinodrama "Elaha" (2023) über eine junge Deutschkurdin, die kurz vor ihrer Hochzeit zwischen den Erwartungen der Familie und ihrem eigenen Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hin und her gerissen ist. Die Titelrolle spielte Bayan Lala, sie verkörpert auch die in vielen Rückblenden sehr präsente Nelly, die sich unter anderem als singender Stargast in eine von Pierre M. Krause moderierte Talkshow hineinträumt.

Mit ihrer Besetzung konterkariert Aboyan ganz bewusst das unwillkürliche Bild einer einsamen Großstädterin: Auf den ersten Blick ist Nelly alles andere als ein unscheinbares Mauerblümchen. Dazu passt auch die Bildgestaltung (Michael Merkel): Trist und farblos sind nicht etwa die Rückblenden, sondern die spätherbstlich düstere Ermittlungsgegenwart. Die Szenen mit Nelly sind dagegen und in ein warmes Licht getaucht. Umso größer ist der Kontrast zu der Verzweiflung, mit der sie Anschluss sucht. In einem der bedrückendsten Momente lassen Fine und ihr Mann Niclas (Louis Nitsche) die Freundin ungerührt und buchstäblich im Regen stehen. 

Trotzdem hat Nelly ihrer Therapeutin (Lana Copper) beim letzten Gespräch versichert, sie sei verliebt und könnte schreien vor Glück. Nicht erst der Rückblick zeigt, wie’s wirklich war. Schon gleich zu Beginn ist sie aus dem Off zu hören: "Es ist, als würde ich ganz laut um Hilfe rufen, aber es hört mich keiner." Während sich Lannert und Bootz weiterhin fragen, ob es sich nicht doch um einen geschickt kaschierten Mord handeln könnte, ergibt sich eine dritte nicht minder grausige Option; und die Wahrheit ist ohnehin viel komplizierter.