Bedford-Strohm: Genozid als Begriff nicht tabuisieren

Heinrich Bedford-Strohm
epd-bild/Heike Lyding
Emphatie ist für Heinrich Bedford-Strohm in der Debatte um den Genozid-Begriff notwendig.
Debatte um Genozid-Begriff
Bedford-Strohm: Genozid als Begriff nicht tabuisieren
Hat Israel im Gaza-Streifen einen Genozid verübt? Vor allem in Deutschland wird heftig diskutiert. Der Vorsitzende des Weltkirchenrats, Heinrich Bedford-Strohm, plädiert dafür, die Debatte wieder auf das Leid der Menschen zu lenken.

Der Vorsitzende des Weltkirchenrats, Heinrich Bedford-Strohm, sieht den Gebrauch des Begriffs "Genozid" für die israelische Kriegsführung im Gaza-Streifen mit gemischten Gefühlen. "Auf der emotionalen Ebene ist es nachvollziehbar, wenn Menschen, die das Grauen in Gaza als Betroffene über zwei Jahre erlebt haben, die denkbar stärksten Worte benutzen, um ihr Leiden zum Ausdruck zu bringen", sagte der frühere bayerische Landesbischof dem Evangelischen Pressedienst (epd). Für Jüdinnen und Juden hingegen kämen bei dem Begriff ganz andere Assoziationen hoch, vor allem in einem Kontext, in dem sie in aller Welt zunehmenden antisemitischen Angriffen ausgesetzt seien.

Bedford-Strohm: Es muss rechtlich über "Genozid" diskutiert werden können
Auf der rechtlichen Ebene stehe ein verbindliches Urteil noch aus. Die erhebliche Zahl der internationalen Rechtsexperten, die den Sachverhalt des Genozids für gegeben halten, spreche klar gegen die Tabuisierung des Begriffs. "Es muss darüber rechtlich diskutiert werden können - unabhängig davon, welche Meinung man selbst dazu hat", sagte Bedford-Strohm. Der einzige Weg heraus aus dem Konflikt im Heiligen Land sei der kontinuierliche Versuch, "sich auch in die andere Seite hineinzuversetzen und sich vom Leid der anderen berühren zu lassen", sagte der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und heutige Vorsitzende des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK): "Wir sollten die Diskussion wieder auf das Leid der Menschen und seine Überwindung zurückführen."

Deutschland, das den Völkermord an den Juden zu verantworten habe, sei mit guten Gründen besonders zurückhaltend, den Begriff "Genozid" für die israelische Kriegsführung zu verwenden. Im internationalen Kontext aber würden Deutschland immer wieder Doppelstandards vorgeworfen. "Man verurteilt mit uns zusammen die Hamas-Morde des 7. Oktober 2023 scharf. Man versteht aber nicht, dass wir uns etwa im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine über den damit verbundenen eklatanten Völkerrechtsbruch empören, aber bei der zwei Jahre langen Bombardierung Gazas mit 60.000 Toten, viele Kinder eingeschlossen, und der Blockade humanitärer Hilfe so lange weithin stumm geblieben sind", sagte der deutsche Theologe Bedford-Strohm.

Palästinensischer Bischof Azar ist besonnen

Auslöser der Debatte insbesondere in der evangelischen Kirche war die kürzliche Verwendung des Begriffs durch den palästinensischen Bischof Sani Ibrahim Azar. Dieser hatte in seiner Predigt bei einem internationalen Gottesdienst zum Reformationstag in Jerusalem mit Blick auf die Lage in den palästinensischen Gebieten gefragt: "Aber wie sieht Reformation nach zwei Jahren Völkermord aus? Was bedeutet Reformation, wenn wir eine Welt, ein Land betrachten, das so zerbrochen ist?" Den Hamas-Überfall auf Israel vom 7. Oktober 2023 als Auslöser des Gaza-Kriegs erwähnte er nicht. Daraufhin verließ der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, den Gottesdienst, den er gemeinsam mit einer Delegation des nordrhein-westfälischen Landtags besucht hatte.

 

Bedford-Strohm äußerte Verständnis für Azar. Man müsse sich klarmachen, dass bei dem Gottesdienst ein palästinensischer Bischof gesprochen habe, dessen Aufgabe es sei, die Menschen, die ihm anvertraut sind, pastoral zu begleiten: "Bischof Azar gehört zu den besonnensten und moderatesten Kräften in dem Konflikt im Heiligen Land, die ich kenne." Er habe sich immer für Gewaltfreiheit und für einen gerechten Frieden eingesetzt, in dem Palästinenser und Israelis dort in wechselseitigem Respekt zusammenleben könnten. Umgekehrt verstehe er auch die Reaktion von Lehrer: "Dass er am Schabat überhaupt an diesem christlichen Gottesdienst teilgenommen hat, war ein starkes Zeichen des Brückenbaus."