Welche Folgen hat der globale Finanzkapitalismus? Und wie lässt sich so wirtschaften, dass es dem Leben aller dient? Diese Fragen treiben den evangelischen Theologen Martin Hoffmann um. Bis 2023 arbeitete er in Costa Rica, früher war er als Pfarrer und Predigerseminar-Rektor in Bayern tätig.
Kürzlich gab er das Buch "Lebensdienlich wirtschaften" (Büchner Verlag) der Projektgruppe "Reformation radikalisieren" heraus. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) in München sprach der Nürnberger darüber, wie sich das Wirtschaften verändern müsste.
epd: Herr Hoffmann, Sie sagen, wegen unseres Wirtschaftssystems steckt die Menschheit in einer Überlebenskrise. Inwiefern?
Martin Hoffmann: Gewalt, Kriege, Migration, Klimawandel: All die aktuellen Krisenphänomene haben wir der Moderne zu verdanken. Das Fortschrittsdenken, die Rationalität des Wachstums, die Zweck-Nutzen-Kalkulation - das sind ihre Schattenseiten. Seit dem Ukrainekrieg haben sich die Krisen erneut verschärft, und die Wurzel liegt im globalen Kapitalismus.
Jetzt, da die Menschen mit so vielen Krisen beschäftigt sind - ist dies eine gute Zeit für Kapitalismuskritik?
Hoffmann: Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das Problem grundsätzlich anzugehen. Denn ganz offensichtlich ist es der neoliberale Kapitalismus, der die Welt in diese Probleme stürzt. Die Vermehrung des Kapitals bei wenigen und die Zunahme der Ungleichheit sind es, die uns spalten und viele Bürger dem Rechtsradikalismus in die Arme treiben. Auch der Klimawandel gründet in diesem Denken. Diese Wirtschaftsweise ist wie ein Bumerang, sie sorgt für soziale, ökologische und politische Probleme.
Ist unsere Gier schuld?
Hoffmann: Gier ist ein individuelles Motiv. Ich meine mehr die strukturelle Seite, unsere Wirtschaftsform und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Früher hat die Politik die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft gesetzt - so entstand die soziale Marktwirtschaft.
Seit den 1980er-Jahren hat sich die Ökonomie von nationaler Gesetzgebung befreit und agiert global, und die Finanzwirtschaft hat die Realwirtschaft überholt - die Vermehrung von Kapital um des Kapitals willen. Bei so viel Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung fällt eins weg: die Orientierung am Gemeinwohl. Wir brauchen eine neue politische Rahmenordnung, die die Wirtschaft wieder darauf ausrichtet.
Bewirkt der Kapitalismus nicht auch viel Gutes?
Hoffmann: Natürlich, wir müssen unterscheiden und nicht nur schwarz-weiß denken: Kapitalismus versus Sozialismus. Der Zusammenbruch der Sowjetunion galt vielfach als Triumph des Kapitalismus. Doch es geht darum, einen dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Sozialismus zu suchen. Viele Experten arbeiten daran, und es gibt gute Entwürfe.
"Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander"
Politisch ist Kapitalismuskritik vor allem der Partei der Linken zuzuordnen. Würden Sie sich da verorten?
Hoffmann: Es geht uns nicht um Parteipolitik. In der "Diagnose" des Wirtschaftssystems gibt es sicher Überschneidungen, aber in der "Therapie" schweben uns andere Dinge vor.
Etwa die Gemeinwohl-Ökonomie?
Hoffmann: Genau, sogar in der bayerischen Verfassung steht: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle". Das ist das Ziel! Stattdessen ist die gängige These: Wenn das Wirtschaftswachstum steigt, profitieren auch die Ärmeren - eine "Trickle-down-Ökonomie", in der der Wohlstand von oben nach unten durchrieselt. Die Statistiken zeigen aber: Das funktioniert nicht, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander.
Die Gemeinwohl-Ökonomie feiert in diesem Oktober ihr 15-jähriges Bestehen. Viele Unternehmen, Gemeinden und Institutionen haben sich angeschlossen. Wie funktioniert das Modell?
Hoffmann: Das Konzept definiert vier Kriterien, nach denen Unternehmen wirtschaften sollen: Wahrung der Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung. Zum ersten Kriterium gehören etwa Lieferketten und Arbeitsbedingungen. Die Gemeinwohl-Strategie sieht vor, dass in einer Matrix mit Punkten bewertet wird, ob ein Unternehmen gemäß diesen Kriterien arbeitet. So kommt am Ende neben der reinen Finanz- eine Gemeinwohlbilanz heraus.
"Politische Aufgabe ist es, Gemeinwohl-orientierte Unternehmen zu fördern"
Aber wie sollte ein Umbau der gesamten Wirtschaft funktionieren?
Hoffmann: Politische Aufgabe ist es, Gemeinwohl-orientierte Unternehmen zu fördern - über Steuernachlässe, vergünstigte Kredite, Vergabe öffentlicher Aufträge. Das Engagement für das Gemeinwohl muss sich ökonomisch lohnen. Wenn man nur auf Einsicht bei den Unternehmen wartet, wartet man lange. Tatsächlich haben aber bereits etliche Unternehmen schon von sich aus damit begonnen, sich auf das Gemeinwohl hin bilanzieren zu lassen.
Wo funktioniert das Gemeinwohl-Modell schon?
Hoffmann: Der Outdoor-Ausstatter Vaude zum Beispiel lässt sich nach den Gemeinwohl-Kriterien bewerten - und behauptet sich am Markt. Er kontrolliert seine Lieferketten engmaschig und zwingt Firmen notfalls zu Verbesserungen. Kunden kaufen bewusst nachhaltige Produkte. Auch das Modell der solidarischen Landwirtschaft funktioniert so: Durch ihren festen Mitgliederstamm hat sie ein garantiertes Einkommen und kann ökologisch anbauen.
"Man kann das Wirtschaftssystem mit kreativen Lösungen durchlöchern"
Auch einige diakonische Einrichtungen wie das oberbayerische Herzogsägmühle wirtschaften gemeinwohlorientiert. Es gilt zudem, etwa das Thema Grundeigentum zu überdenken. Man kann das Wirtschaftssystem mit kreativen Lösungen durchlöchern. Das ginge aber besser, wenn es staatlich gefördert würde.
Sie haben lange in Costa Rica gearbeitet. Was haben Sie dort an kapitalistischen Auswüchsen erlebt?
Hoffmann: In Lateinamerika erleben wir eine Welle von Privatisierungen, im Gesundheitswesen, in der Wasserversorgung, in der Ressourcenausbeutung und im Landraub. Krankenhausbetreiber arbeiten gewinnorientiert. In Peru haben Leute Tee getrunken gegen Corona, weil sie sich Medikamente nicht leisten konnten.
"Die Fluchtursachen sind großenteils von der Wirtschaftsweise des Westens initiiert"
Wenn die Wasserversorgung weltweit weiter privatisiert wird, wird das 70 bis 80 Prozent der Menschheit in Armut stürzen. Die Fluchtursachen sind großenteils von der Wirtschaftsweise des Westens initiiert. Das wäre doch Motiv genug, an Veränderungen zu arbeiten und Modelle eines alternativen Wirtschaftens zu verfolgen.
Sie sind evangelischer Pfarrer - sollten sich Theologen in die Wirtschaft einmischen, wie Sie mit Ihrem Gemeinschaftswerk "Lebensdienlich wirtschaften", oder lieber bei ihren Leisten bleiben?
Hoffmann: Mein Mitherausgeber, Michael Grzonka, ist Chemiker und hat in verschiedenen Unternehmen in den USA gearbeitet. Die Projektgruppe, rund 35 Mitglieder weltweit, hat die Grundsatzerklärung "Schrei nach einer lebensdienlichen Wirtschaft" im Buch verfasst. Die alternativen Modelle darin haben Experten aus der Ökonomie beschrieben.
Die Grundfragen aber haben eine theologische Dimension. Es geht ums Überleben! Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich immer wieder mit profunden Aufrufen und Dokumenten eingemischt. Papst Franziskus analysierte 2013: "Diese Wirtschaft tötet", und der Lutherische Weltbund prangerte 2003 den "Götzendienst" der neoliberalen Ideologie an. Auch reformatorische Gedanken helfen beim Blick auf die Krisen.
Schon Martin Luther nannte den Mammon den beliebtesten Abgott auf Erden. Im Frühkapitalismus sah er bereits die Gefahren, die jetzt Realität sind, wie Monopolbildung oder Preistreiberei. Hier eine Transformation zu schaffen, setzt ganzheitliches Denken voraus. Wirtschaft, Soziales und Natur hängen zusammen. Wir müssen den künftigen Generationen lebenswerte Bedingungen hinterlassen. Es gilt, immer zu fragen, was dem Leben dient.



