Als am 9. September 2025 gleich 19 russische Drohnen über das polnische Territorium flogen und dann abgeschossen wurden, bedeutete dieses Ereignis eine Zäsur. Polen rief NATO-Bedrohungsfall aus. Die Diskussionen in den Medien griffen weit über explizit militärische Themen hinaus und führten allesamt zum Eingeständnis des Offensichtlichen: Die Gefahr ist real. Die darauffolgenden Meldungen aus Estland und skandinavischen Ländern, wo es auch zur Verletzung des Luftraums durch Drohnen gekommen ist, zeigten erneut, dass die häufig in Westeuropa bagatellisierte polnische Perspektive auf Russland endlich ernst genommen wird.
Das Thema Krieg ist in polnischen Medien omnipräsent. Aber nicht nur dort. Auch in Gesprächen mit Freunden oder Kollegen kommt immer wieder die Frage auf, ob es dazu kommen könnte. Man versucht zuweilen das K-Wort zu vermeiden und beschränkt sich in manchen Gesprächen auf ein unbestimmtes Wort. Und zwar nicht deswegen, weil man die Realität nicht wahrhaben oder sie schönreden will, sondern weil man sie wach und nüchtern beurteilt, ohne in Verschwörungstheorien und angsteinjagende Nervosität hinabzugleiten.
In Krisen- und Kriegszeiten wird das Leben unvorhersehbar, und der Alltag ist von Bedrohungen und Unsicherheit geprägt. In solchen Momenten ist es entscheidend, einen kühlen Kopf zu bewahren, sich auf eine Evakuierung vorzubereiten und nach Wegen zu suchen, das Risiko zu minimieren - so beginnt eine Sonderinternetseite der polnischen Regierung für Krisen- und Kriegsfälle. Bis zum Jahresende wird jeder polnische Haushalt Post von der Regierung bekommen, zunächst die Bewohner der östlichen von 16 Woiwodschaften.
Auf 56 Seiten werden dort Szenarien wie Naturkatastrophen, Desinformation, Stromausfälle, Terrorangriffe geschildert, ergänzt durch Anleitungen für die Erste Hilfe. Parallel dazu gibt es auch eine 36-seitige Broschüre zur Zivilverteidigung. Unter dem Titel "Seid bereit" enthält sie zahlreiche Sicherheitshinweise. Beide Broschüren sind auch in englischer Fassung zugänglich. Eine begleitende Grafik zeigt zudem die 20 nötigsten Gegenstände für einen Evakuierungsrucksack – darunter ein Ausweis, Essensvorräte für mindestens zwei Tage, ein Schlafsack, Bargeld oder ein Dosenöffner. Wer sein Wissen verifizieren will, kann es in einem interaktiven Online-Spiel überprüfen.
Polen rüstet seit langem auf
Diese Sicherheitsvorkehrungen in Form einer Aufklärungskampagne wurden im Frühjahr, also schon lange vor dem Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum, geplant und sollten das ganze Volk für den Fall der Fälle sensibilisieren, aber gleichzeitig der Panikmache den Boden entziehen. Mit 1.160 km schützt Polen nach Finnland die zweitlängste östliche EU-Außengrenze und bildet zugleich den strategischen Dreh- und Angelpunkt für die Verteidigung der Ukraine. Ob Militärlogistik oder humanitäre Hilfe - polnische Grenzgebiete sind von kaum zu überschätzender Bedeutung.
Der Putin-Propaganda muss nicht nur Polen die Stirn bieten. Um russische Einflüsse in den westlichen Medien weiß man mittlerweile in der ganzen EU und auch außerhalb. Der hohe Anteil ukrainischer Flüchtlinge in Polen und die beunruhigende Anfälligkeit großer Teile der Gesellschaft für antiukrainische, historisch verbrämte Vorurteile zeigen klar auf, dass viele destabilisierende Faktoren im Spiel sind, die nicht gerade für innere Sicherheit und Ruhe sorgen. Polen rüstet seit langem auf und ist im NATO-Vergleich der Spitzenreiter (4,8 Prozent des BIP). Die Entschlossenheit, das Land gegen die russische Bedrohung zu schützen, verbindet die größten politischen Kräfte.
Historische Erinnerung an Weltkrieg noch wach
Für die Friede-Freude-Eierkuchen-Rhetorik und der Blauäugigkeit gegenüber russischen Beteuerungen, dem Land gehe es auch nur um Frieden und Dialog, gibt es kaum Platz. An Dialogbereitschaft und Friedenswillen der Russen glaubt in Polen keiner. Allzu wach ist die historische Erinnerung an jahrhundertelange Teilungen Polens und den letzten Weltkrieg, als Polen von Nazideutschland und zwei Wochen danach von der Sowjetunion überfallen wurde und von den Alliierten im Stich gelassen wurde.
Mit Befremden und Unverständnis nehmen viele in Polen die vorsichtige Haltung Deutschlands gegenüber Russland wahr, dass Deutschland im gegenwärtigen Konflikt seine historische Schuld gegenüber Russland im Blick behalten müsse. Für Polen ist es klar: Es gibt gar keinen Unterschied zwischen dem Dritten Reich und der stalinistischen Sowjetunion. Das eine wurde besiegt, das andere überlebte und versklavte weiterhin europäische Völker – sei es in Polen oder in der DDR. Russland mit seinem kolonial-imperialen Gehabe ist demnach schlicht und einfach die Fortsetzung und Vertiefung des Vergangenen.
Pfarrer zwischen Alarmbereitschaft und Seelsorge
Krieg und Frieden ziehen sich durch politische Stellungnahmen, aber auch Predigten, falls die Predigttexte dazu drängen. Das Thema ist schon längst in den Kirchen jeglicher Couleur angekommen, auch in der Evangelisch-Augsburgischen (Lutherischen) Kirche in Polen, die die größte protestantische Kirche des Landes ist, mit ca. 65.000 Mitgliedern. In diesem Jahr begeht die Kirche das Jubiläum "500 Jahre Reformation in den Masuren", wo 1525 der erste lutherische Staat weltweit entstand. Die heutige Masuren-Diözese, die im Zentrum der Feierlichkeiten steht, umfasst strategische Grenzgebiete im Nordosten Polens.
Auf der letzten Frühlingssynode wurde der Antrag eingereicht, einen Ausschuss einzuberufen, der die Kirche für den Fall einer Krisensituation vorbereitet. Es geht u. a. um rechtliche Lösungsvorschläge, was zu tun ist, wenn die Kommunikation nicht intakt ist oder die nach dem geltenden Kirchenrecht nötige Entscheidungsfindung nicht möglich sein wird. Der Ausschuss, in dem Vertreter verschiedener Gremien sitzen, soll sich auch um pastorale Inhalte und Bildungsangebote kümmern, da Menschen instinktiv auch nach Halt und Begleitung in ihren Kirchengemeinden suchen.
Aber wie steht es um das Gemeindeleben im Zeichen der Angst und Bedrohung? Ist der Krieg wirklich das Thema in den Gemeinden? Sind die Menschen zutiefst verunsichert oder gar von apokalyptisch-defätistischen Gedanken geprägt? Dawid Banach ist Gemeindepfarrer in der nordöstlichen Stadt Suwałki. "Wir leben in der Suwałki-Lücke, unweit der Grenze zu Litauen, Belarus und Russland. Entgegen medialer Berichterstattung versuchen wir hier normal zu leben", versichert Pfarrer Banach, der auch Militärpastor ist. "Es gibt sicherlich auch Ängste, aber die meisten Menschen sagen: Wir sind von hier, wir werden nicht fliehen, sondern Widerstand leisten, falls es dazu kommen sollte", so Pfr. Banach.
Dass die Bedrohung auch beim Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst ein Thema ist, bestätigt Pfarrer Tomasz Wigłasz aus der ostpolnischen Großstadt Białystok. "Wir wollen weder die Gefahr bagatellisieren noch Apokalyptik betreiben. Man fragt eher nach praktischen Sachen, wo man beispielsweise Zuflucht finden oder wo man auch aushelfen kann", sagt Pfarrer Wigłasz, ebenfalls Militärpfarrer und zugleich Oberkonsistorialrat. Der 46-jährige Wigłasz, der mit klarem schlesischem Akzent in Ostpolen auffällt und Pfarrer einer der jüngsten ev. Kirchengemeinden in Polen ist, wurde von der Synode zum Krisen-Ausschuss delegiert, wo er seine Expertise einbringen soll.
Seelsorger sind oft auch gleichzeitig Militärpfarrer
Es ist kein Zufall, dass etliche Pfarrer in den Ostgebieten auch zugleich in der Evangelischen Militärsorge tätig sind. In der polnischen Armee gibt es drei pastorale Strukturen – das römisch-katholische und orthodoxe Militärordinariat und eben die ev. Militärseelsorge, in der es ein Dutzend lutherische Pfarrer und einen reformierten Geistlichen, der auch andere Protestanten in der Armee betreut, gibt. Auch in Ostróda (Osterrode), ehemals ein wichtiger Standort der lutherischen Reformation in Masuren, verdrängt man das Thema nicht.
Der aus dem westpolnischen Bromberg stammende Pfarrer Wojciech Płoszek, auch als Militärpfarrer in Grenzgebieten tätig, gibt zu bedenken, dass Menschen nicht über Fachwissen oder geopolitische Kompetenzen verfügten und so leicht Faktenverdrehungen und Clickbaits anheimfallen würden. "Unsere Rolle besteht darin, auf Christus hinzuweisen und seinen Trost und keine Vertröstung zu verkünden. Jesus ist die einzige objektive Wahrheit in den Zeiten der Post-Wahrheit", erklärt Płoszek und erinnert daran, dass Jesus den Sturm auf dem See gestillt hat. "Wir wissen, die Stürme würden bleiben. Wir sollten aber besser wissen, wer wir sind und an wen wir glauben", fügt er hinzu.
Welche Herausforderungen die sich verbreitende Desinformationskampagne mit sich bringt, betonen auch einmütig andere Pfarrer und berichten, wie sich die Seelsorge seit dem Ukrainekrieg, der Migrationskrise an der Grenze und den letzten Drohnen-Vorfällen verändert habe. Pfarrer Marcin Pysz aus Pisz (dt. Johannisburg), der für die Grenzschutzseelsorge zuständig ist, nimmt die Angehörigen an der Grenze in Schutz. "Es gab viel mediale Hetze gegen Grenzschutzmitarbeiter. Ihr Dienst, besonders an der polnisch-belarussischen Grenze, wo das Lukaschenko-Regime gezielt Migranten aus Afrika oder dem Fernen Osten herlockt und illegal nach Polen durchdringen lässt, erforderte hohe Belastbarkeit", erklärt Pysz.
Unsachliche und einseitige Beurteilungen verschlimmern die Atmosphäre und stigmatisieren die Funktionäre und ihre Familien, meint Pfarrer Pysz. Ihm pflichtet auch Pastor Banach bei. "Unsere Gemeinde soll durch Gebet die Armee unterstützen und Zeugnis in der Gesellschaft ablegen. Wir sollten die Arbeit der Soldatinnen und Soldaten schätzen und verstehen. Ihr Dienst an der Grenze ermöglicht uns, das Leben normal zu gestalten, zur Arbeit zu gehen und unsere Kinder zur Schule zu schicken", unterstreicht Pfr. Banach.
Die pastoralen Herausforderungen machen keinen Halt an östlichen Grenzgebieten und werden auch in anderen Teilen Polens thematisiert, wo auch Militärpfarrer im Einsatz sind. Im westpolnischen Piła (dt. Schneidemühl) leitet Pfarrer Tomasz Wola eine lebendige Kirchengemeinde, die in den letzten Jahren zahlreiche Neueintritte verzeichnete. Pfarrer Wola ist auch Musiker und das geschäftsführende Oberhaupt der ev. Militärseelsorge.
"Wir sprechen auch über Desinformationen in den Medien, zumal im Internet. Wir müssen gleichzeitig darauf achten, dass unsere Seelsorge die Nächsten nicht aus den Augen verliert und gleichzeitig unsere christliche Identität nicht ausklammert. Wir brauchen vernünftige Sensibilität", meint Pfarrer Wola. Ähnlich argumentiert Pfarrer Wigłasz aus Białystok und betont dabei, wie auch alle seine Kollegen, praktische Aspekte rund um die Zivilverteidigung, aber auch nachhaltige Seelsorge in der Armee und außerhalb.
Pfarrer Wigłasz hebt hervor, man müsse ansprechbar und kommunikativ bleiben. Leute sollten zu Wort kommen können und wir müssen auch Mut haben, einzugestehen, wenn wir hilflos sind. Manchmal kann die sprichwörtliche Aufforderung "Reiß dich zusammen" das Menschenleben retten, aber andernmal könne es vernichtend ausfallen. – Wir sind nicht dafür da, die Welt und ihre Ordnung zu retten, sondern die Botschaft zu verkünden, dass nichts in dieser Welt den Frieden verschleiern kann, den wir im Herrn haben – bekennt Wigłasz.