Als Pfarrer in den Stuttgarter Karzer mussten

epd-bild/Hanno Gutmann
In der Stuttgarter Stiftskirche gibt es einen Raum, der als Karzer für Pfarrer diente, die etwas Strafbares begangen hatten.
Unterhaltsame Kirchengeschichte
Als Pfarrer in den Stuttgarter Karzer mussten
Eintausendfünfhundert Jahre auf knapp 900 Seiten - dieser herausfordernden Aufgabe hat sich der Kirchenhistoriker Hermann Ehmer gestellt und das Buch "Württembergische Kirchengeschichte" veröffentlicht.

Seine vor wenigen Tagen erschienene "Württembergische Kirchengeschichte" umfasst das geballte Wissen des 82-jährigen Kirchenhistorikers Hermann Ehmer, der lange das Archiv der Evangelischen Landeskirche in Württemberg leitete. Dem Evangelischen Pressedienst (epd) verriet er, warum er sich auch den "unterhaltsamen Teilen" der Historie gewidmet hat.

epd: Herr Professor Ehmer, auf 897 Seiten präsentieren Sie Württembergs Kirchengeschichte neu. Wie würden Sie 15-Jährige dafür begeistern?

Hermann Ehmer: Ich würde ihnen von den unterhaltsamen Teilen erzählen. Zum Beispiel von den Wallfahrten im Mittelalter oder von Marienerscheinungen. Oder aus der Zeit nach der Reformation von dem Theologen Johann Albrecht Bengel, der die Wiederkunft Christi im Jahre 1836 vorhersagte. Oder von dem Raum in der Stuttgarter Stiftskirche, der als Karzer für Pfarrer diente, die etwas Strafbares begangen hatten. Kirchengeschichte ist voller solcher spannender menschlicher Geschichten.

"Die Geschichte der Kirche in unserem Land beginnt mit der Christianisierung im frühen Mittelalter"

Manche Protestanten denken, ihre Kirchengeschichte beginne erst mit der Reformation...

Ehmer: Ja, dieser Gedanke ist weit verbreitet, aber falsch. Die Geschichte der Kirche in unserem Land beginnt mit der Christianisierung im frühen Mittelalter. Eine entscheidende Rolle spielte dabei eine alte Grenze: der römische Limes. Innerhalb der ehemaligen römischen Gebiete war die Christianisierung einfacher und früher abgeschlossen. Das lag an den alten Römerstädten wie Konstanz, Augsburg oder Speyer, die zu wichtigen Bischofssitzen wurden und von dort aus die Mission vorantrieben. Nördlich des Limes tat man sich schwerer.

Was ist das Besondere an der württembergischen Kirchengeschichte, das sie von anderen Regionen unterscheidet?

Ehmer: Das ist eindeutig der Pietismus. Sowohl der ältere Pietismus des 18. Jahrhunderts als auch die Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert haben dieses Land zutiefst geprägt. Das unterscheidet Württemberg fundamental, zum Beispiel von Baden. Dieser Einfluss wirkt bis heute nach. Er ist ablesbar an der Zusammensetzung der evangelischen Landessynode und auch bei Bischofswahlen. In Württemberg muss oft ein ausgleichender Kandidat der Mitte gefunden werden, der für verschiedene Strömungen wählbar ist.

Der 82-jährige Kirchenhistoriker Hermann Ehmer (Stuttgart) hat eine 897-seitige "Württembergische Kirchengeschichte. Von der Christianisierung bis zur Gegenwart" (Calwer Verlag) vorgelegt.

Ihr Buch wiegt 2,2 Kilogramm. Wie haben Sie diese Fülle an Material zusammengetragen?

Ehmer: Die Basis ist meine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Tübingen. Aber das Herzstück sind Hunderte von Vorträgen, die ich über Jahrzehnte in einzelnen Kirchengemeinden gehalten habe. Oft rief ein Pfarrer an und bat um einen Vortrag zum Jubiläum seiner Kirche. Das waren für mich örtliche Tiefenbohrungen.

Dabei habe ich gelernt: Die Geschichte jeder einzelnen Gemeinde ist abendfüllend. Viele dieser konkreten Beispiele und persönlichen Schicksale aus den Dörfern und Städten sind in das Buch eingeflossen und machen es, so hoffe ich, anschaulich und lebendig.

Gibt es einen historischen Fakt, der Ihrer Meinung nach oft übersehen wird?

Ehmer: Ein ganz entscheidender Vorgang, der in kaum einer Ortsgeschichte vorkommt, ist die Trennung von kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde. Bis zum Jahr 1887 waren diese in Württemberg identisch. Die Stadt Stuttgart hat zum Beispiel in den 1880er-Jahren noch die Heslacher Kirche gebaut - das war Aufgabe der bürgerlichen Gemeinde! Erst ein Gesetz von 1887 trennte diese Einheit. Die bis heute andauernden Streitigkeiten, ob die Stadt für die Kirchturmuhr und die Glocken zahlen muss, gehen direkt auf die damals ausgehandelten Verträge zurück. Das ist vielen nicht bewusst. 

Hermann Ehmer: Württembergische Kirchengeschichte. Von der Christianisierung bis zur Gegenwart. 897 Seiten, 69 Euro. Calwer (Stuttgart) 2025