Seit dem 11. September beherrscht Charlie Kirks Tod die Medien. Immer wieder bezeichnen ihn seine Anhänger:innen als Märtyrer. Pastor Kiene ist bei evangelisch.de einer der Pastoren, der die Fragen beantwortet, die unsere Leser:innen so haben.
Henning Kiene ist Pastor für united4rescue. In unserem Fragenbereich auf evangelisch.de beantwortet er regelmäßig spannende Fragen zum Thema Religion, Kirche und Glaube.
Katja Eifler volontierte nach ihrer Studienzeit im Lokalradio im Rhein-Kreis Neuss. Anschließend arbeitete sie als Radioredakteurin. Später als Redaktionsleiterin eines Wirtschaftsmagazins am Niederrhein. Seit April 2023 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig. Weiterhin arbeitet sie nebenbei als freischaffende Journalistin, Online-Texterin, Coach und Moderatorin.
evangelisch.de: Herr Kiene, ist Charlie Kirk aus theologischer, evangelischer Sicht zu Recht ein "Märtyrer?"
Henning Kiene: Im Jahr 1522 wurden in Antwerpen zwei Mönche hingerichtet. Der Vorwurf: Sie hätten die neue Lehre gepredigt, die von der Reformation in Wittenberg ausging. Martin Luther war schockiert, er trauerte um die Toten und dichtete diesen Männern ein Lied. Eine Zeile aus Luthers Lied erläutert, was Märtyrerinnen und Märtyrer sind: "Für sein Wort sind gestorben, sein Märtyrer sind sie worden." Also: Evangelischer Märtyrer ist, wer Gottes Wort öffentlich verkündigt und für Gottes Wort sogar den Tod in Kauf nimmt. Wort Gottes, so die Reformation, ist das Evangelium. Es spricht von unverdienter Gnade, es predigt einen menschenfreundlichen, einfühlsamen Gott, der auf der Seite der Schwachen steht. Es geht also um Jesus Christus.
Frage: War das die Botschaft von Charlie Kirk? Ich kenne Charlie Kirk nur aus den Medien. Seine Ermordung ist abscheulich. Das schwere Schicksal der verwaisten Kinder erschüttert mich, seiner Witwe gilt mein Mitgefühl. Dass der Tote als Märtyrer bezeichnet wird, zeigt die Anteilnahme vieler Menschen. Das Wort Märtyrer wirkt verklärend und verhindert darum einen klaren Blick. Wofür hat Kirk gestanden? Ist Charlie Kirk – wie die zwei Mönche in Antwerpen – im Dienst für Gottes Wort gestorben? Oder hat er mit fromm klingenden Formulierungen schwächere Menschen ausgegrenzt, sie sogar herabgewürdigt?
"Sollte Kirk davon überzeugt gewesen sein, dass menschliche Empathie sogar Schaden anrichtet, dann ist er einem schwerwiegenden Missverständnis aufgesessen"
Charlie Kirk soll menschliche Empathie für einen erfundenen, sogar esoterischen Begriff gehalten haben. Das wäre direkt gegen das Evangelium gerichtet. Sollte Kirk davon überzeugt gewesen sein, dass menschliche Empathie sogar Schaden anrichtet, dann ist er einem schwerwiegenden Missverständnis aufgesessen. Martin Luther hat das Evangelium zusammengefasst: "Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht." Oder: Gott ist Empathie. Der Maßstab liegt sehr, sehr hoch. Alles, was ich von Charlie Kirk höre, entspricht diesem Maßstab nicht.
Wie definiert sich die Bezeichnung Märtyrer eigentlich und woher kommt sie?
Kiene: Der Begriff Märtyrer kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Zeuge". Zeuginnen und Zeugen treten vor Gerichten auf, um die Wahrheit zu finden. Sie müssen also zuverlässig sein und wahrheitsgemäß antworten. Sie dürfen nichts weglassen und nichts hinzufügen. Der Begriff Märtyrer steht also für die Wahrheitsfindung. Märtyrer müssen sachlich bleiben und uneigennützig sprechen. Die scharfe Rhetorik, die ich von Charlie Kirk höre, wirkt auf mich polemisch. In der Polemik geht es selten um die Wahrheitsfindung.
Christliche Märtyrerinnen und Märtyrer dienen der Wahrheit Gottes, treten uneigennützig für den Glauben ein. Der Jünger Stephanus gilt als einer der ersten christlichen Märtyrer. Er interpretierte in einer Predigt die Heilsgeschichte und wird direkt nach dieser Predigt getötet. (Apostelgeschichte 7). Wer diesen Abschnitt in der Apostelgeschichte liest, hört eine konsequente, am Wort der Bibel orientierte, Predigt. Stephanus steht stellvertretend für andere Märtyrerinnen und Märtyrer. Immer wieder werden Frauen und Männer für ihr klares Glaubenszeugnis, mit dem sie häufig an der Seite der Schwächeren treten, ermordet.
Gibt es Beispiele für evangelische Märtyrer auf der jüngeren Geschichte?
Kiene: Viele Kolleginnen und Kollegen, denen ich mich gerne anschließe, sprechen jetzt von Dietrich Bonhoeffer und den Geschwistern Scholl. Diese Menschen widerstanden den Verbrechen des nationalsozialistischen Staates. Sie handelten vor dem Hintergrund ihres festen, christlichen Glaubens. Es war die Demut, die sie zu Märtyrern werden ließ. Wenn ich heute an Märtyrerinnen und Märtyrer denke, dann fällt mir nicht Charlie Kirk ein, ich denke an den "Prediger von Buchenwald".
Pastor Paul Schneider predigte aus dem Zellenfenster heraus, er rief den - auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers angetretenen - Häftlingen Bibelsprüche zu und machte ihnen Mut. Dafür wurde er schwer misshandelt. Sein vermutlich letzter Ruf über den Appellplatz des Konzentrationslagers ist unvergessen: "Kameraden, hört mich. Hier spricht Pfarrer Paul Schneider. Hier wird gefoltert und gemordet. So spricht der Herr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘. Man schlug ihn, er verstummte. Paul Schneider wurde mit der Überdosis eines Herzmedikaments ermordet.