Geschichte muss lebendig werden, damit man sie versteht, und das funktioniert in erster Linie mit Zeitzeugen; kein Film, kein Buch, kein Artikel kann die Intensität einer persönlichen Begegnung ersetzen. Deshalb stellen sich Dokumentarfilmer seit einigen Jahren die bange Frage, wie sie über die Gräueltaten der Nationalsozialisten und den Horror des Holocaust berichten sollen, wenn es niemanden mehr gibt, der den Schrecken bezeugen kann.
Umso wichtiger ist, die Erinnerungen festzuhalten, wie es Jan N. Lorenzen vor einigen Jahren mit dieser Dokumentation (Erstausstrahlung war 2020) getan hat: Wer die Schrecken vor 75 oder mehr Jahren als Kind erlebt hat, dem haben sich diese Bilder nachdrücklich ins Gedächtnis gebrannt; deshalb können die betagten Männer und Frauen in "Kinder des Krieges" ihre Erlebnisse mit einer Lebendigkeit schildern, als hätten sie sich erst gestern zugetragen.
Der Autor, der unter anderem einige Jahre zuvor gemeinsam mit Sandra Maischberger einen Film über den Nato-Doppelbeschluss und die Geschichte der Friedensbewegung gemacht hat ("Pershing statt Petting"), hat die neunzig Minuten denkbar sparsam gestaltet: Menschen sitzen in einem Sessel und berichten. Sie stammen aus allen Teilen der Republik, aus Großstädten und vom Lande; sie sind die Söhne und Töchter von Tätern wie von Opfern.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Einige waren in den frühen Vierzigerjahren Teenager, sie sind quasi ihr Leben lang mit nationalsozialistischem Gedankengut indoktriniert worden; andere haben als Kinder, oft wie durch ein Wunder, ein Konzentrationslager überlebt. Lorenzen illustriert ihre Schilderungen zwar durch passende zeitgenössische Aufnahmen, aber vor allem zeigt er die Menschen. Während Rückblicke dieser Art sonst zumeist sehr emotional sind, bleiben die Männer und Frauen weitgehend gefasst.
Anders als in vielen vergleichbaren Dokumentationen hat sich Lorenzen nicht auf zwei oder drei Zeitzeugen beschränkt. Die kaleidoskopartig miteinander kombinierten Erzählungen seiner vielen Gesprächspartner wirken zunächst zusammenhanglos, aber nach und nach ergeben die schlaglichtartigen und nur wenige Minuten dauernden Schilderungen der Männer und Frauen ein Gesamtbild. Die einen waren im letzten Kriegsjahr erst sechs, andere bereits 18, aber alle haben traumatische Erfahrungen gemacht.
Ein alter Herr wird die Bilder nicht mehr los, wie er als jugendlicher Scharfschütze während des "Volkssturms" einen feindlichen Soldaten erschossen hat. Die gesamte Gruppe wurde kurzerhand der Waffen-SS zugeteilt, Widerspruch war nicht möglich; in sowjetischer Gefangenschaft wurde dies dem Jungen zum Verhängnis. Eine Frau, die als Teenager in ein Konzentrationslager kam, kann heute noch nicht glauben, dass sie nach der Befreiung zufällig ihre verschollene Schwester wiedergefunden hat.
Andere erzählen, wie sie wochenlang im Bunker ausharren musste, und eine Frau berichtet, wie ihr als "Halbjüdin" der Zutritt verwehrt wurde, obwohl sie christlich getauft war; in den Bunker ließ man sie nur, wenn sie in Begleitung ihrer "guten Großmutter" erschien. Das Kriegsende hat ihr das Leben gerettet; die Papiere für ihre Deportation waren schon fertig.
Weitere Bilder, die sich eingebrannt haben, handeln von italienischen Zwangsarbeitern, die in Hildesheim als vermeintliche Plünderer aufgehängt wurden, oder von einem Massenmord in der Oberpfalz kurz vor Kriegsende, als 200 Menschen massakriert wurden; anschließend zwangen die Amerikaner die Dorfbewohner, sich auf dem Friedhof die Leichen anzuschauen. Eine Frau erzählt, wie Mütter ihren Kindern aus Angst vor der Roten Armee die Pulsadern aufgeschnitten haben.
Ein Mann hat als kleiner Junge mit einer Granate hantiert; sie hat ihm ein Bein und eine Hand zerfetzt. Der Chirurg wollte ihn nicht operieren, weil Krüppel im Weltbild der Nationalsozialisten kein Lebensrecht hatten. Wo es möglich war, hat Lorenzen die Erzählungen mit authentischen Filmausschnitten aus Wochenschauen oder aus privaten Aufnahmen unterlegt; anderswo müssen Bilder genügen, die zumindest zu den Berichten passen. Die Offenheit, mit der die Menschen sprechen, zeugt vom Vertrauensverhältnis zwischen dem Filmemacher und seinen Zeitzeugen.
Einige ältere Damen geleitet er galant am Arm zum Sessel. Zwischendurch meldet er sich mit kurzen Nachfragen zu Wort, aber ansonsten gehört der Film voll und ganz den Männern und Frauen. "Kinder des Krieges" war ein Multimediaprojekt des Geschichtlichen Arbeitskreises der ARD, die Mediathek bietet viele weitere Angebote zu diesem Thema.