Dass er noch lebt, ist für Volker Eigemann "ein kleines Wunder". Bei strahlendem Sonnenschein geht der Berufsschullehrer und Hobby-Musiker über den Fronhof in der Solinger Innenstadt und erinnert sich daran, was dort vor einem Jahr mit ihm geschah: Ein 26 Jahre alter syrischer Islamist stach dort beim Fest zum 650. Stadtjubiläum unvermittelt auf Besucher ein und tötete drei Menschen. Andere wurden schwer verletzt - darunter Volker Eigemann. Am Samstag will er an der Gedenkfeier zum ersten Jahrestag des terroristischen Anschlags teilnehmen.
Inzwischen könne er "da relativ gut und locker drüber reden", sagt Eigemann. Ärgerlich sei nur, dass er seinen linken Arm nicht richtig in die Höhe strecken könne, auch die Erinnerungen würden "manchmal etwas unklarer". Aber vielleicht liege das auch am Alter, scherzt der 61-Jährige. An die Tat vom 23. August 2024, einen Freitagabend, kann sich der Lehrer gut erinnern. Er habe weder den Täter noch den Angriff bewusst wahrgenommen: "Ich kann mich an keinen Stich erinnern."
Zu dem Stadtfest war er mit seiner Frau gegangen. Sie trafen Freunde und setzten sich zunächst an den Rand des Platzes. Dann ging er allein in Richtung einer Band, die gerade spielte. Plötzlich erfolgte der Angriff. Nach Angaben einer Rechtsmedizinerin stach der mutmaßliche Täter Issa al H. viermal im Halsbereich auf Eigemann ein. "Dabei wurde eine kleine Halsschlagader erwischt", sagt er. Die Stiche seien nur knapp an der Hauptschlagader vorbeigegangen.
Eigemann verlor viel Blut, er wurde bereits auf dem Platz an einen Tropf gehängt und in einem Wuppertaler Krankenhaus vier Stunden lang notoperiert. Als er aus der Narkose erwachte, sagten ihm die Ärzte, er könne nun seinen zweiten Geburtstag feiern.
Wo Menschen ums Überleben kämpften
Auch Stadtsprecher Thomas Kraft war an dem Abend beim "Festival der Vielfalt" unterwegs. Als er Aufnahmen für Social-Media-Kanäle machen wollte, kamen ihm vom Fronhof Leute entgegen. "Hier kämpfen Menschen ums Überleben", sagte ein Mitarbeiter der Ordnungsbehörde am Rande des Platzes, der mit Flatterband abgesperrt wurde. Es habe "gedauert, bis mir ins Bewusstsein gedrungen ist, welche Dimensionen das annehmen wird", sagt Kraft. Auch ein Jahr danach sei die Erinnerung sehr frisch.
Diese Ausnahmesituation sei "für eine kleine Großstadt wie Solingen schon eine gewaltige Herausforderung". In der 165.000-Einwohnern-Stadt weckte der Messeranschlag bei vielen Menschen Erinnerungen an ein anderes Verbrechen, das international Schlagzeilen machte: den rechtsextrem motivierten Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç, bei dem im Mai 1993 fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen starben. Damals habe die Stadt einen "Zusammenhalt auch in schwierigen Zeiten" bewiesen, sagt Kraft.
In Solingen wird wieder gefeiert
Dass die Solingerinnen und Solinger sich ihr Leben auf Dauer nicht von dem Terroranschlag bestimmen lassen wollen, habe die Sommerparty am zweiten August-Wochenende in der Innenstadt gezeigt, zu der Zehntausende Menschen kamen. Organisiert wurde die Party unter anderem von Philipp Müller, vor einem Jahr Mitorganisator des Stadtfestes. Er brach damals die Feier ab und forderte die Menschen vor zwei weiteren Bühnen auf dem Mühlenplatz und dem Neumarkt zum Gehen auf. "Wir möchten euch bitten, dass ihr geht, in aller Ruhe, bitte die Augen aufhaltet, denn leider ist der Täter nicht gefasst", sagte er damals.
Unmittelbar nach dem Angriff erhielt Müller, Journalist bei der Lokalzeitung "Solinger Tageblatt", einen Anruf von einem Bekannten: "Hier sticht jemand mit einem Messer auf die Leute ein!" Um Panik zu vermeiden, sprach Müller bei der Absage des Festes nicht von Opfern.
Das Stadtfest 2024 habe unter erhöhten Sicherheitsauflagen stattgefunden, vorab sei auch über einen Messerangriff als potenzielle Gefahr gesprochen worden, sagt Müller. Hinweise auf eine konkrete Gefährdungslage habe es nicht gegeben. In einer offenen Gesellschaft könne eine solche Tat aber nie ganz ausgeschlossen werden: "Wir können deshalb nicht unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einstellen."
Das sieht auch Volker Eigemann so. Neben drei Terminen bei einem Psychotherapeuten halfen ihm vor allem Freunde und Bekannte, die Tat gut zu verarbeiten und wieder in den Alltag zurückzufinden. Auch die Begegnung mit dem Tatverdächtigen konnte er gut verarbeiten, als er im Prozess gegen Issa al H. vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf aussagte. "Ich habe ihn nicht viel angeguckt und mich auf meine Aussage konzentriert", sagt der 61-Jährige. Auch die Rückkehr auf den Fronhof fiel Eigemann nicht schwer. Bereits fünf Wochen nach der Tat trat er dort mit seiner Blaskapelle "Em Brass" auf. "Da konnte ich schon wieder Saxophon spielen - und musste nur manchmal den Arm nach unten nehmen."