Adipositas hat soziale und psychische Folgen

Ein übergewichtiger Mann steht auf der Waage
epd-bild/Andrea Enderlein
Zunehmend mehr Menschen leiden wie an Adipositas, Hilfsangebote sind überlaufen.
Übergewicht: Spott und Häme sind Alltag
Adipositas hat soziale und psychische Folgen
Massiv übergewichtige Menschen leiden an ihrer Krankheit und zudem häufig an anderen, damit verbundenen Erkrankungen. Seit Corona hat sich das Gewichtsproblem verschärft - und umstrittene Abnehmspritzen erhöhen den gesellschaftlichen Druck.

Sie trauen sich nicht, mit dem Bus oder der Straßenbahn zu fahren. Die Leute könnten ja tuscheln. Schwimmbadbesuche sind tabu. "Geld hab ich immer nur nachts am Automaten geholt", sagt Sabine Hacker aus München. Die 58-Jährige weiß, was es bedeutet, viel zu viel Gewicht auf die Waage zu bringen: "Vor zehn Jahren war ich über 220 Kilo schwer." Zunehmend mehr Menschen leiden wie Hacker an Adipositas. Hilfsangebote sind überlaufen. Dabei ist Unterstützung wichtig. Denn die psychosoziale Belastung durch starkes Übergewicht ist enorm. Und der öffentlich wahrgenommene Druck steigt auch durch die Verfügbarkeit von umstrittenen Abnehmspritzen.

Das bestätigt Matthias Riedl, Diabetologe und Ernährungsmediziner aus Hamburg. Von der Spitze gehe die Botschaft aus: "In kurzer Zeit sehr viel abzunehmen, ist machbar, dann tu es!" Der Hamburger Arzt sieht darin ein großes Problem. Er weist darauf hin, dass die Spritzen schwerwiegende Nebenwirkungen haben: "Wir sehen in unserer Ambulanz unter anderem Mangelernährung und eine starke Abnahme des Muskelstatus als Folge der Spritze", sagte der Mediziner. Auch könne der Augennerv geschädigt werden.
Sabine Hacker kennt die Vorurteile gegen Übergewichtige.

Beim Einkaufen habe sie hämische Kommentare gehört: "Wir werden außerdem als faul abgestempelt." Mit Vermeidungsstrategien habe sie versucht, sich vor Diskriminierungen zu schützen. Inzwischen hat Hacker zwei Operationen hinter sich. 2014 lag sie zum ersten Mal unter dem Messer. Aktuell wiegt die Münchnerin 100 Kilogramm. Das ist noch nicht ihr Traumgewicht: "Doch mehr geht nicht, damit muss ich mich jetzt abfinden."

Längst vorbei ist die Zeit, in der sie sich kaum hinauswagte. Hacker geht heute selbstbewusst an die Öffentlichkeit, um über Adipositas aufzuklären. Vor allem engagiert sie sich für adipöse Menschen aus Oberbayern. Alles, berichtet sie, begann mit einer Selbsthilfegruppe. Die musste während der Corona-Krise pausieren. Doch der Bedarf nach gegenseitiger Unterstützung war groß. Zusammen mit ihrem Mann begann sie, online Sportangebote zu organisieren. Daraus ging Ende 2021 der Verein Adipositas-Hilfe München hervor.

Corona-Lockdowns befeuerten Gewichtsprobleme

Dorothea Brenninger vom Ende 2019 gegründeten Adipositas-Zentrum "JumpaKids" in Regensburg berichtet, viele Kinder mit Gewichtsproblemen erzählten, "dass bei ihnen alles mit den Lockdowns losging". Verfügbare Zahlen bestätigen das: 2023 wurden laut DAK-Kinder- und Jugendreport bundesweit hochgerechnet 470.000 Mädchen und Jungen mit der Diagnose Adipositas ambulant oder stationär behandelt. Das waren fast fünf Prozent aller jungen Menschen zwischen 5 und 17 Jahren. 2021, also während der Corona-Krise, seien die Zahlen im Vergleich zu 2019 und 2020 deutlich angestiegen, so die Krankenkasse.

Auch nach einer Untersuchung des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2022 habe sich die Probleme eines zu hohen Körpergewichts durch die Corona-Krise verschärft. Für diese Analyse wurden knapp 3.000 Erwachsene zwischen Juli und Dezember 2021 befragt. 26 Prozent berichteten von einer Gewichtszunahme seit März 2020. Dabei fiel auf, dass vor allem jene Personen zugelegt hatten, die ohnehin schon fülliger waren. Frauen waren häufiger betroffen als Männer. Jüngere hatten mehr Probleme als Ältere, ihr Gewicht zu halten.

Brenninger beobachtet nicht nur eine wachsende Nachfrage nach den Angeboten von "JumpaKids": "Auch das Ausmaß der Adipositas, das wir sehen, steigt an." Im Augenblick nehme ein 14-Jähriger teil, der 140 Kilogramm auf die Waage bringe. Dicke Kinder wie er leiden laut der Ökotrophologin oft immens unter Abwertung und Ausgrenzung: "Einige Kinder weinen deswegen hier bei uns." Sie erzählen von Hänseleien, von massivem verbalen Mobbing, manche sogar von Gewalt, beispielsweise von Schlägen. Von langen Wartezeiten für Adipositas-Patienten, die behandelt werden möchten, berichtet Kerstin Meyer-Carius von der Tagesklinik des Leipziger Klinikums St. Georg. Zwischen neun und zwölf Monate lang stünden Patienten im Moment auf der Warteliste: "2023 betrug die Wartezeit bei uns erst vier Monate."

Sebastian Kruse, Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), erinnert daran, dass starkes Übergewicht lange nicht als Erkrankung anerkannt war. In Deutschland geschah dies erst 2020 durch den Bundestag. Seither suchen Betroffene von Adipositas verstärkt nach Hilfe. Aus dieser Erkenntnis heraus begann die DAG zusammen mit der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, Adiposiologen auszubilden. Die Kursteilnehmer werden über den Stand der Adipositas-Forschung informiert und erfahren, welche medikamentösen, nicht-medikamentösen und interventionellen Behandlungsmethoden es gibt. Mehr als 300 Fachkräfte durchliefen laut Kruse in den vergangenen zwei Jahren den Kurs. Das Interesse an der Fortbildung sei hoch.