evangelisch.de: St. Severin gilt manchen als "Promi-Kirche". Was sagen Sie dazu? Was ist St. Severin wirklich?
Susanne Zingel: Wir kriegen schon ordentlich Gegenwind. Aber wir bezeichnen uns selbst als Erprobungsraum, weil wir uns entschieden haben, dass wir eine gastfreundliche Gemeinde sind. Wir sind nicht überrascht und ticken aus, wenn jemand was von uns will. Sondern wir freuen uns. Ja, manchmal wird gesagt, wir sind eine Promikirche. Das ist aber Quatsch. Als Lindner heiratete, war der große Aufreger, dass er nicht in der Kirche war. Aber das ist eben genau der Erprobungsraum. Hier sind auch mal Prominente dabei – so wie auf der ganzen Insel eben. Aber wir machen ganz viel für ganz normale Menschen. Wir hatten hier auch ein Jahr lang Kirchenasyl. Statt zwei Kinder hatte ich plötzlich drei, ein minderjähriger afghanischer Flüchtling kam dazu. Das war schon eine Herausforderung.
Keitum ist aber schon speziell. Es ist sehr exklusiv.
Zingel: Ich finde, jeder ist Ort speziell. Und wir haben das sogar zu einem Konzept gemacht. Wir haben uns mit viel Arbeit ein Leitbild erarbeitet: Wir sind eine gastfreundliche, segnende und betende Gemeinde. Wir lassen uns überraschen, wohin das führt.
Der Überraschungsmoment gehört dazu. Aber die Gastfreundschaft ist für uns wirklich spirituell verankert – auch tief in der benediktinischen Tradition.
"Wir haben uns bewusst entschieden: Wir sind eine gastfreundliche Kirchengemeinde. Und wir erschrecken nicht, wenn jemand was von uns will – wir freuen uns" Elmar Kruse
Also nicht nur Tourismus, sondern echte Gastfreundschaft?
Elmar Kruse: Genau. Gastfreundschaft heißt bei uns: Tür aufmachen – da stehen zum Beispiel zwei mit Hund – und man fragt sich: Wer seid ihr? Was interessiert euch? Und daraus entstehen Gespräche, Begegnungen, Geschichten. Klar, das ist manchmal herausfordernd. Aber wir haben uns bewusst entschieden: Wir sind eine gastfreundliche Kirchengemeinde. Und wir erschrecken nicht, wenn jemand was von uns will – wir freuen uns.
Die Corona-Zeit war dann sicher eine besonders große Herausforderung?
Kruse: In der Corona-Zeit war es so, dass für uns alle eigentlich alles dichtgemacht wurde. Ich muss sagen, ich habe in dem Jahr St. Severin nur vom Rande betrachtet – ich war ein Jahr nicht auf Sylt. Als ich wiederkam, gab es erste Versuche mit Formaten wie digitalen Gottesdiensten. Kamera aufstellen, ins Netz stellen – da dachten wir gleich, das passt nicht zu uns.
Für uns ist ganz wichtig: Wenn Kontakt, dann physisch. Man muss das Miteinander spüren – das ist eine sehr sinnliche Geschichte. Als es dann die Möglichkeit gab, wieder kleine Gottesdienste zu feiern, haben wir das sofort gemacht. Die Beschränkung lag anfangs bei 50 Personen, später dann bei 70. Aber wir haben gleich am ersten Sonntag gemerkt: Das wird nichts. Also haben wir zwei Gottesdienste gehalten – einen um 10 Uhr und den nächsten um 11:15 Uhr. Jeden Mittwoch findet bei uns ein Konzert statt – 48 oder 49 insgesamt im Jahr. Und auch da war klar: Ein Konzert mit nur 50 Personen wäre schade. Also haben wir zwei gemacht – eins um 18, eins um 20:15 Uhr.
Zingel: Der Organist von Notre-Dame kam für ein Konzert für nur 50 Personen. Das war königlich. Es sind die Besten der Besten gekommen und haben gesagt: Hauptsache, wir spielen.
Kruse: Das war eine wahnsinnig tolle Erfahrung – allein schon, Konzerte zweimal zu hören. Für die Künstler war das toll, weil das Publikum immer unterschiedlich war. Manchmal war das erste Konzert besser als das zweite – das hing von der Tagesform ab.
Was das Gemeindeleben betrifft: Als wir wieder durften, haben wir ganz vorsichtig angefangen. Viele Dinge sind in der Corona-Zeit eingeschlafen. Zwei Jahre sind in einer Kirchengemeinde wie unserer eine lange Zeit. Viele Menschen sind in der Zeit gestorben – das merkt man im laufenden Betrieb oft nicht, aber wenn plötzlich zwei Jahre vergangen sind, fällt es auf.
Wir sprechen ja hier gerade inmitten eures Gemeindenachmittages. Mir fällt auf, wie fröhlich alle sind und wie farbenfroh gekleidet. Das ist ein großer Unterschied zu meiner Heimatgemeinde. Wie erklärt ihr euch das?
Zingel: Das ist der Spirit hier.
Kruse: Die Gäste kommen ja nicht ohne Grund hierher. Sie haben das Gefühl: Hier ist es schön, wir kommen ein bisschen runter. Und wir, wir dürfen immer hier leben. Ich muss sagen, ich habe viel gesehen, bin viel herumgekommen, aber ich lebe jetzt seit 15 Jahren hier – und ich würde nicht mehr weggehen. Das ist das Paradies. Wir haben hier alles, was wir brauchen. Und was wir nicht haben, das braucht man im Zweifel auch nicht.
Denn wir haben immer diese Verpflichtung zu überlegen: Musst du das jetzt wirklich haben? Musst du das wirklich holen? Musst du dieses eine Ding unbedingt haben, oder reicht es auch so? Was brauchen wir wirklich?
Ich habe das am Anfang schmerzlich lernen müssen. Ich kam aus der Großstadt hierher. Die meisten Menschen, die hier dauerhaft leben, reduzieren sich auf das, was wirklich zählt. Wir haben hier eine unfassbar schöne Natur, einen sehr direkten Kontakt zur Schöpfung, zu den Elementen, zu den Jahreszeiten. Man kann das intellektualisieren, aber man kann es auch einfach wahrnehmen. Zum Beispiel: Wenn man nach einem anstrengenden Tag abends noch mal zum Strand geht – tagsüber war alles überfüllt, der Strand glüht noch. Und plötzlich ist der leer. Dann ist das für uns Feierabend. Ein Geschenk.
Da am Strand – die Sonne geht unter. Man lächelt breit. Der Strand ist aufgeräumt, das Meer hat sich beruhigt. Und dann schaut man: Was passiert da draußen? Plötzlich sieht man drei schwarze Flossen aus dem Wasser kommen, eine Schweinswalfamilie. Eine Mutter mit zwei Jungen. Und man hat nichts anderes zu tun, als einfach nur zu gucken: Wo tauchen sie wieder auf? Wo kommen sie raus?
Gibt es zwei Gemeinden: eine Feriengemeinde und eine einheimische Gemeinde?
Kruse: Ja, genau. Eine ist da an einem dunklen Dezembertag. Und die andere besteht aus Gästen und Einheimischen. Wobei das Wort "Einheimische" auch schwierig ist – viele, die heute als Einheimische gelten, waren früher auch Gäste. Ich zum Beispiel. Ich sehe manchmal in den Gottesdiensten Leute, von denen ich weiß, dass sie nicht hier leben. Aber die sehe ich öfter als meine Nachbarn. Der typische Gemeindefriese sagt: Warum soll ich in die Kirche, der Herrgott sitzt mittags mit am Tisch.
Wer damit nicht umkann, dass ständig fremde Menschen zu Besuch sind, ist hier wirklich falsch. Man muss hier grundsätzlich gastfreundlich sein – und auch neugierig. Aber ganz ehrlich: Jede Woche kommen neue Leute mit neuen Geschichten. Wenn man sich darauf einlässt und mit ihnen in Kontakt geht, dann kriegt man immer wieder tolle Impulse. Ich sag manchmal frech: Ihr seid unser Fernsehgerät!
Wie bitte?
Kruse (lacht): Ja, wirklich. Ich sag dann: Ihr seid unser Fernsehprogramm. Wir setzen uns hier hin – und ihr erzählt uns, was in der Welt los ist. Das hat auch was Humoristisches. Und ganz ehrlich: Wenn mal jemand doof ist – nach zwei Wochen ist er ja wieder weg.
Zingel: Ich hatte neulich die Verfassungsrichterin Frauke Brosius-Gersdorf hier zu Gast. (Anm. der Red.: Als die Wahl der neuen Verfassungsrichterin scheiterte, sorgte dies für Schlagzeilen) Das war live, ich musste gar nicht erst die Zeitung lesen – ich krieg das hier direkt mit.
Wie gestalten Sie die Gottesdienste?
Zingel: Manchmal sogar ziemlich konservativ. Wir feiern Agende-1-Gottesdienste – mit klassischen Liedern, einer klaren Liturgie. (Anm. d. Red. Die Agende I ist das offizielle liturgische Buch für Gottesdienste in lutherischen Kirchen. Sie enthält feste Ordnungen für Hauptgottesdienste, darunter das Abendmahl, Taufen und Kasualien.) Und die Kirche ist voll. Wenn wir dann schöne Choräle singen, gute Musik hören, einfach das Evangelium lesen – dann passiert hier was. Ich habe vorher in der Stadt gearbeitet, aber hier am Meer wirkt diese schlichte Schönheit nochmal ganz anders.
Und wie viele Einheimische und Touristen kommen da sonntags?
Zingel: Also mit Empore passen etwa 280 rein. Und ja – das ist dann eine Mischung. Touristen sagt hier übrigens keiner. Das Wort ist fast abwertend. Wir sagen Gäste. Was wir hier lernen, ist Heterogenität. Es gibt nicht den klassischen Touristen auf Sylt. Wir sind eine lebendige Kirche.
"Manche sagen auch: Sylt ist eine Premium-Marke in Deutschland – wie Persil, Miele, Dr. Oetker, Nivea. Und in dieser Reihe steht auch St. Severin. Ja, die Kirche mag ein touristisches Highlight sein. Aber so what?" Elmar Kruse
Was bedeutet für euch lebendige Kirche?
Zingel: Direkter Kontakt. Mit Menschen. Und mit den Fragen des Glaubens. Im Austausch sein, über das, was wirklich zählt – über Gott, über die Bibel, über den eigenen Weg.
Kruse: Und ich sehe, wie gerne die Leute zu unserer Kirche kommen. Sie gehen rein, werden plötzlich ganz ruhig. Die Kirche macht was mit ihnen. Ob Konzert, Besuch oder Gottesdienst – viele empfinden da etwas. Und dieses Empfinden hat etwas mit dem zu tun, wonach sie wirklich suchen. Sie suchen Entspannung, wollen mal zu sich kommen – das ist es doch, warum Menschen Urlaub machen. Einfach mal raus aus dem Alltag. Und wo gelingt das besser als in einem Raum, der so schützend ist, dass man hineingeht und sofort still wird? Die Schultern sinken, man setzt sich, hört kontemplativ in sich hinein, spürt vielleicht ein stilles Gebet oder genießt ein Konzert – ohne etwas leisten zu müssen. Man darf einfach still sitzen, darf einfach sein. Und niemand in der Kirche – egal zu welcher Zeit man sie betritt – ist hektisch. Niemand läuft herum. Alle bewegen sich langsam, ruhig, besonnen. Jeder genießt den Moment. Denn dieser Ort ist anders.
Das ist – wie der Glaube – eine ganz private Geschichte. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen sich dazu bekennen und sagen: "Ich war in St. Severin, und ich habe gebetet." Das fände ich schön. Aber wir leben in einer Zeit, in der man sich nicht beim ersten Gespräch an der Theke zum Glauben bekennt.
Wenn Menschen weit über das Meer blicken - das sind Momente, in denen Endlichkeit spürbar wird. Wenn wir als Kirche ein Teil davon sein dürfen – dann ist es unglaublich toll. Und wir sagen den Menschen: Wenn ihr wollt, wenn ihr heiraten möchtet – herzlich willkommen. Ihr müsst nichts zahlen. Ihr seid in der Kirche willkommen.
Manche sagen auch: Sylt ist eine Premium-Marke in Deutschland – wie Persil, Miele, Dr. Oetker, Nivea. Und in dieser Reihe steht auch St. Severin. Ja, die Kirche mag ein touristisches Highlight sein. Aber so what? Es ist doch wunderbar, wenn Menschen sagen: Schau dir das an, das ist besonders. Das Gebäude ist alt, es steht noch immer, beherbergt Kunstschätze – das ist mehr als erlaubt.
"Das hier bei uns sieht oft oberflächlich aus – aber es hat Tiefgang. Wie bei einem Schiff sieht man den Tiefgang nicht – aber er ist da. Eine lebendige Gemeinde ist wie ein Kirchenschiff mit Tiefgang"
Zingel: Jetzt aber Schluss mit schön, schön, schön. Der eigentliche Durchbruch kam für uns mit dem Tod von Heike, meiner Kollegin. Das war tiefgreifend. Sie war 49, Mutter von drei Kindern und starb im Urlaub auf Kreta. Das ist über zehn Jahre her. Sie haben gefragt, was eine lebendige Gemeinde ist. Damals war sie es zum Beispiel. Wir haben uns hingesetzt und gesagt: Wir trauern jetzt. Und dann passierte etwas. Touristen kamen und sagten: "Ich bin eigentlich auch hier, weil mein Mann gestorben ist. Das ist das erste Mal, dass ich mich allein wieder hertraue." Da waren so viele, die sagten, ich versuche, mit etwas klar zu kommen. Andere sagten: "Ich habe den Krebs besiegt – glaube ich – aber sicher ist man nie. Und jetzt bin ich hier, allein mit mir und dem Meer."
Diese Phase, diese harte Trauerphase, hat uns Mut gemacht. Es ist wunderschön, wie du sagst, Elmar, aber eben mit allem was dazu gehört. Auch die Gästebücher erzählen das. Klar steht da mal: "War mit Opa hier" – aber dazwischen finden sich Einträge, die einen wirklich berühren.
Kruse: Manchmal habe ich Angst, dass jemand etwas Blödes oder Zotiges reinschreibt. Aber das trauen sich die Leute nicht. Meist steht da: "Ich bin so dankbar, endlich mal wieder hier zu sein." Dank, der nicht an die Vermieterin geht, sondern nach oben. Im Prinzip ist jeder solche Eintrag ein kleines Gebet. Natürlich stehen Trauer und Glück nebeneinander.
Zingel: Als Pastorin, die seit zwanzig Jahren hier ist, habe ich mit den meisten Menschen schon gemeinsam auf dem Friedhof gestanden. Das ist wie ein Unterboden. Ich glaube, die Menschen sind übersättigt mit einfacher Unterhaltung. Das hier bei uns sieht oft oberflächlich aus – aber es hat Tiefgang. Wie bei einem Schiff sieht man den Tiefgang nicht – aber er ist da. Eine lebendige Gemeinde ist wie ein Kirchenschiff mit Tiefgang.