Über der nährstoffreichen und feuchten Böschung des Glindbaches in Mulmshorn breitet sich ein betörender Duft aus, der an Mandeln und Honig erinnert. Die cremeweißen und filigran gewachsenen Blütendolden des Mädesüß locken nicht nur reichlich Bienen, Schwebfliegen und kleine Käferarten an. Das mehrjährige Rosengewächs bringt auch Evelyn Westermann ins Schwärmen. "Mädesüß ist eine uralte Heilpflanze", erläutert die Kräuterpädagogin auf einer Wanderung durch die Felder von Mulmshorn im Landkreis Rotenburg bei Bremen.
Eine Gruppe von knapp zehn Frauen und Männern folgt der Expertin auf dem Pfad rund um den Ort, zupft hier mal ein Blatt, nascht dort mal eine Blüte. Mädesüß enthalte natürliche Salicylverbindungen, einen schmerzstillenden Pflanzenwirkstoff, sagt Westermann, die regelmäßig auf Kräuterwanderungen mit der Heilkraft und den Aromen unterschiedlicher und teils unscheinbarer Pflanzen bekannt macht.
Was andere Unkräuter nennen, sind für sie "Urkräuter", die erfolgreich gegen manches Zipperlein eingesetzt werden können - kleine Wunder am Wegesrand. Zum Beispiel die Brennnessel, eine wahre Vitaminbombe. "Die Samen sind mit ihrem hohen Gehalt an wertvollen Inhaltsstoffen getrocknet beispielsweise über dem Müsli echtes Superfood", erklärt die Kräuterexpertin der Gruppe, die sich der Pflanze aufgrund der feinen Brennhaare auf den Blättern mit Respekt nähert. "Die Blätter in der Mitte anfassen und nach außen streichen, dann brennt es nicht", rät Westermann, die einen Salat aus den oberen Triebspitzen empfiehlt.
Eine zentrale Plattform etwa im Internet, die bundesweit Kräuterwanderungen wie der von Evelyn Westermann auflistet, gibt es nicht. Stattdessen informieren zahlreiche regionale Anbieter über Führungen. Mulmshorn beispielsweise gehört zur "Kräuterregion Wiesteniederung" mitten im Elbe-Weser-Dreieck. Attraktionen in der Landschaft zwischen Bremen und Hamburg sind unter anderem ein großer Kräutergarten und direkt nebenan ein Lavendelfeld in Stapel, das in diesem Jahr am 4. und 5. August abgeerntet werden soll: 1.000 Quadratmeter Provence mitten in Norddeutschland.
Der Blick hängt fest am Boden
Sie wolle vor allem dazu ermutigen, mit offenen Augen durch die Natur zu gehen, betont Kräuterpädagogin Westermann. "Nach unten schauen und sehen, was es hier alles Tolles gibt, darum geht es mir", ergänzt sie. Jürgen Lappöhn, einer der Teilnehmer, ist begeistert: "Diese Zusammenhänge, das ist erstaunlich. Ich habe schon so viel notiert."
So macht Evelyn Westermann die Gruppe bekannt mit Vogelmiere, Giersch, Rotklee, Johanniskraut, Schafgarbe, Klette, Wilder Möhre, Beifuß, Löwenzahn, Spitz- und Breitwegerich, Margerite und Melde. "Eines der leckersten Wildkräuter überhaupt", preist Westermann die Pflanze an. Melde sei, "wie ein Ursalat, mit vielen Mineralstoffen und Vitaminen".
Während sie spricht, summt und brummt es an den Wegen in der Feldmark. Hummeln und Honigbienen besuchen die bunte Pracht, die auch Wildtieren guttut. So ist der Kräuterreichtum der Ackerränder als "Hasenapotheke" bekannt, weil die Pflanzen bevorzugt auf dem Speiseplan von Meister Lampe stehen. Allerdings, darauf macht eine Informationstafel mitten in den Feldern aufmerksam, habe die Landwirtschaft zahlreiche Ackerwildkräuter verdrängt: "Vor allem der Einsatz chemischer Mittel zur Unkrautbekämpfung ist die wichtigste Ursache hierfür."
Westermann berichtet von Pflanzen, die im Tee, im Salat oder als Wildkräuter-Smoothie den Stoffwechsel anregen, gegen Rheuma wirken, den Blutdruck senken, den Husten stillen, Magen und Darm heilen oder die Stimmung aufhellen. Dafür beispielsweise sei das Johanniskraut bekannt. "Das ist die Sonne in der Pflanze", schwärmt Westermann, die allerdings auch warnt, viele Kräuter seien leicht toxisch, zu viel sei nicht gut: "Die Dosis macht das Gift."
Drei Tipps für Salat, Sirup und Pesto
Schon die Äbtissin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen (1098-1179) wusste um die Heilkraft von Wildkräutern, die zudem die Küche bereichern. Drei Tipps der Kräuterpädagogin Evelyn Westermann aus Mulmshorn bei Bremen:
* BRENNNESSEL: Evelyn Westermann sieht sie als ein heimisches Superfood und schätzt besonders die Samen. Wenn sie vom Grün ins Bräunliche wechseln, werden sie reif. Die Pflanze abschneiden, auf ein weißes Küchenpapier legen und trocknen (was auch dazu beiträgt, dass Insekten verschwinden). Sind die Fruchtstände trocken, lösen sich die Samen, die einen leicht nussigen Geschmack haben, der durch Anrösten noch intensiver wird. Ein Topping fürs Müsli oder ergänzend ins Pesto. Die jüngeren Blätter im obersten Drittel werden gerne für einen Salat genommen. Zuvor mit einem Nudelholz ausrollen, dann brennen sie nicht mehr.
* MÄDESÜß: Mädesüß hat einen süßen und blumigen Geschmack, der an Mandeln oder Honig erinnert. Genutzt werden die Blütenstände, beispielsweise getrocknet und aufgebrüht in einem Tee. Oder als Sirup: Ein Liter kaltes Wasser, sieben Dolden Mädesüß-Blüten (ungewaschen, Insekten absammeln). Am besten vor dem Mittag zwischen 11 und 12 Uhr sammeln, dann ist die Konzentration ätherischer Öle in den Blüten am höchsten. Ein Kilo Zucker. Alles in einen Topf. Gut zwei Stunden unter dem Siedepunkt erhitzen (nicht kochen), bis sich der Zucker aufgelöst hat und die Flüssigkeit reduziert ist. Langsam erkalten lassen und sauber abseihen und in Flaschen abfüllen. Vielfach verwendbar, etwa als aromatische Zugabe zu Wasser oder Sekt, zum Verfeinern von Desserts, Torten, Fruchtkompotts. Grundstoff für Vinaigretten.
* GIERSCH: Lässt sich zusammen mit Blattpetersilie zu einem geschmackvollen Pesto verarbeiten. Genutzt werden die jungen Blätter des Giersch, am besten die oberen drei Blattspitzen. Zwei Drittel Giersch und ein Drittel Petersilie waschen, mischen, hacken. Olivenöl nach Belieben dazugeben, außerdem Pinienkerne und Parmesan. Die Masse pürieren. Evelyn Westermann gibt keinen Knoblauch dazu, der geschmacklich dominieren würde.
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