"Bei manchen Briefen schießen einem die Tränen in die Augen", sagt der Historiker Alexander Korb. Etwa bei dem des Häftlings Nikolaus Segota an seine geliebte Anna: "Mein Erdenwallen ist zu Ende. Mein Lebenstraum ist ausgeträumt. Mein Lebensschritt hat sein Ziel erreicht. Mein Dasein endet morgen früh um 5 Uhr."
Am 25. Mai 1943 wurde Segota hingerichtet, im Gefängnis München-Stadelheim. Sein Brief erreichte nie sein Ziel - wie so viele Abschiedsbriefe von NS-Häftlingen. Eine neue Forschungskooperation soll das nun ändern.
Im Projekt "lost words" (englisch: verlorene Worte) arbeiten die Staatlichen Archive Bayerns mit den internationalen Arolsen Archives zusammen, dem weltweit größten Archiv zu nationalsozialistischer Verfolgung.
Am Mittwoch stellten sie das Projekt in München vor: Mehr als 50 Abschiedsbriefe von zum Tode verurteilten Gefangenen wurden bearbeitet und digitalisiert. "Wir wollen den Hingerichteten Namen und Stimme verliehen", sagte der Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, Bernhard Grau. Vor allem aber gelte es, die Adressaten oder weitere Angehörige zu finden und ihnen die Briefe einsehbar zu machen.
Im Staatsarchiv München werden seit 1975 die 844 Hinrichtungsakten aus Stadelheim verwahrt. Mit mehr als 1.000 Guillotinierungen sei die heutige Justizvollzugsanstalt damals eine der zentralen NS-Hinrichtungsstätten gewesen. Die Akten sind laut Staatsarchivleiter Julian Holzapfl seit langem für wissenschaftliche und private Recherchezwecke frei zugänglich. Die Kooperation mit den Arolsen Archives soll nun dazu dienen, biografische Informationen zu ergänzen und nach Familienmitgliedern in ganz Europa zu suchen. Die Briefe, die auch Historiker Korb intensiv gelesen hat, stammen überwiegend von deutschen, aber auch von polnischen, französischen, tschechischen, italienischen und slowenischen Häftlingen zwischen 20 und 81 Jahren.
Intime Briefe und welche mit "drastischen Worten"
Manche Briefe sind persönlich und intim, auch verzweifelt - andere enthalten politisch "drastische Worte", wie die Direktorin der Arolsen Archives, Floriane Azoulay, sagt. Besonders eindrücklich findet sie den Brief zweier junger Franzosen, inhaftierte Zwangsarbeiter, die ihn an den "Diktator" - statt "Direktor" - der Haftanstalt richten. Laut Azoulay schreiben sie, "in eurem Land wird man umgebracht, weil man etwas gestohlen hat". Viele Briefe zeigten "Würde und Haltung", sagt Azoulay. Wenn Familien erführen, dass ihre Angehörigen Widerstand geleistet hätten, seien sie oft stolz.
Wer in der Todeszelle saß, musste das Briefeschreiben beantragen. Das sei wohl zumeist gewährt worden, sagt Holzapfl. Doch abgeschickt wurden die 50 Briefe nie, weil die damalige Gefängnisverwaltung und die Strafvollzugsstellen sie zurückhielten. Holzapfl vermutet, dass sie "bei jedem Anflug von Kritik" am NS-System einkassiert wurden. Warum das Staatsarchiv selbst bisher nie versucht hat, die Briefe an ihr Ziel zu bringen? Es seien schlichtweg zu viele Akten, um das zu schaffen, sagt Holzapfl. Mit dem Projekt gebe es nun "die passende Form". Losgetreten worden war das Projekt durch einen Bericht im Bayerischen Rundfunk.
Nun die Angehörigen zu suchen, heiße, "den zu Unrecht Verurteilten ihren letzten Wunsch zu erfüllen", sagte Azoulay. Für die Familien, ihr Selbstverständnis und ihre gemeinsame Geschichte, könne das ungeheuer wichtig sein. Projektleiterin Anke Münster von den Arolsen Archives ist "sehr optimistisch", schnell Fortschritte zu machen. Seit April läuft die Suche, nun stehe man bereits mit zwei Familien kurz vor der Kontaktaufnahme.