Wie Chris zu Naturgöttern gefunden hat

Der Itsukushima Schrein in Japan steht im Wasser.
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Vom Christentum zum Shintoismus
Wie Chris zu Naturgöttern gefunden hat
Dankbarkeit statt Dogmen, Freiheit statt Exklusivität: So beschreibt Chris seinen neuen Glauben. Einst war er überzeugt katholisch, bevor menschliche Vergehen ihn von der Kirche entfremdeten. Seinen Glauben hat er anderorts wiedergefunden – viele tausend Kilometer entfernt, in Japan. evangelisch.de Socialmedia-Redakteurin Laura Albermann hat mit ihm darüber gesprochen.

Wenn Chris von seiner Kindheit erzählt, klingt vieles vertraut: Kommunionsunterricht, Ostermessen, katholische Schule, Messdiener-Dienste zweimal die Woche. Der Glaube war präsent – nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil er Teil des familiären und kulturellen Alltags war. "Man wird halt getauft", sagt Chris nüchtern. "Die Entscheidung treffen eigentlich die Eltern."

So wie viele Kinder wuchs Chris in einem religiös geprägten Haushalt auf. Seine Mutter – gläubige Katholikin – lebte ihren Glauben mit Überzeugung. Doch für Chris war der Katholizismus zunächst mehr Ritual als Reflexion, mehr Gewohnheit als Überzeugung. Erst als Jugendlicher begann er ihn zu hinterfragen, nachdem immer mehr Fälle sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester bekannt wurden. Mit etwa 17 endete Chris’ Zeit als Messdiener, wenig später trat er ganz aus der Kirche aus.

"Ich habe mich nach und nach zum Agnostiker entwickelt", erzählt Chris im Interview, heute 35 Jahre alt. Die zentrale Erkenntnis damals: Er könne die Existenz eines göttlichen Wesens weder belegen noch widerlegen. Aber der katholische Gott, wie er ihn kennengelernt habe, wurde ihm immer fremder. Ein Grund für diese Entfremdung liegt für Chris im menschlichen Filter durch die Institution Kirche. "Viele der Lehren, die man bekommen hat, kamen von Menschen", sagt er. Die göttliche Wahrheit, so schien es ihm, war gefiltert – durch Auslegung, Übersetzung, Machtstrukturen. Dinge, die mit der Lehre von Nächstenliebe und Demut nicht vereinbar schienen. "Menschen, die den Bezug zum guten Menschsein verloren haben, predigen dir, was Gott will." Doch der Wunsch nach spiritueller Verbindung war nie ganz verschwunden.

Shintoismus als "gelebte Dankbarkeit"

Es war kein Moment der Offenbarung, der Chris zum Shintoismus brachte, sondern ein schleichender Prozess. Seine Verlobte, tief in der japanischen Kultur verwurzelt, öffnete ihm die Tür – nicht mit Worten, sondern mit Gesten. Besuche an Schreinen während Familienbesuchen in der Heimat, kleine Rituale im Alltag, ein Hausschrein in der Wohnung – all das ließ ihn Teil von etwas werden, ohne dass es benannt oder eingefordert wurde.

Der Spiegel im Hausschrein von Chris und anderen Schreinen soll daran erinnern, das Göttliche auch in sich zu erkennen.

"Im Shintoismus gibt es keinen Konvertierungsprozess", erklärt Chris. Kein Bekenntnis, keine Taufe. Man wüchse hinein. Man lebe mit. Und irgendwann merke man: Man ist angekommen. Der Kontrast zum Christentum könnte für ihn kaum größer sein. Wo die katholische Kirche auf Dogmen und strenge Handlungsanweisungen setze und sich anderen Glaubensformen gegenüber verschließe, steht für ihn im Shintoismus eine tiefe Offenheit: "Der Glaube erlaubt andere Religionen neben sich", so Chris. Gerade in Japan gehören Menschen oft dem Shintoismus und dem Buddhismus zugleich an. Der Glaube, wie er ihn nun lebe, sagt Chris, sei aus seiner Sicht frei von Missionierung und frei vom Anspruch, die einzige Wahrheit zu sein.

Shinto ist eine Naturreligion ohne Heilige Schrift, ohne zentralisierte Lehre. Ihre Gottheiten – Kami – sind weniger allmächtige Wesen als Naturgeister, Manifestationen des Göttlichen in der Welt. In jedem Baum, jedem Stein, jedem Tier steckt eine Seele. "Alles hat eine Seele und damit ist alles göttlich", sagt Chris. Im Christentum sei das eigentlich nicht anders, wenn man die Bibel genau betrachte. "Aber irgendwie hatte ich in meiner Zeit als Katholik nie dieses Gefühl von Nähe empfunden." Eine besondere Rolle spielt beispielsweise die Gottheit Inari, die sich aus der Dankbarkeit der Menschen gegenüber der Natur entwickelte – insbesondere bei Bauern, später auch bei Händlern. "Inari ist geschlechtslos und durch und durch eine Manifestation der Natur – geformt aus der Dankbarkeit der Menschen." Die roten Tore der Inari-Schreine stehen sinnbildlich für diesen gelebten Glauben. Inari fühlt sich Chris besonders verbunden.

Glaube an Meer oder Berge

Dabei geht es im gelebten Shintoismus weniger um allmächtige Wesen wie bei den nordischen oder abrahamitischen Religionen. Statt personifizierte Naturphänomene wie einen "Gott des Meeres" zu verehren, steht im Zentrum oft der Ort selbst – die Insel, der Berg, das Meer. Viele Gottheiten werden vor allem lokal verehrt. Einige Gottheiten seien aber auch durch gezielte Einflussnahme entstanden, erklärt Chris. "Weil der Shintoismus auch Staatsreligion war, wurden viele Götter eingeführt, um die kaiserliche Macht zu legitimieren." Ein Beispiel dafür sei die berühmte Insel Itsukushima bei Hiroshima – bekannt durch das ikonische rote Tor im Wasser, das auch Touristen anzieht. Ursprünglich wurde die Insel selbst als Gott verehrt, weil sie den Menschen Nahrung, Schutz und Lebensraum bot. Erst später wurden Schreine gebaut und Figuren eingeführt, um die Natur zu personifizieren – als Teil eines politischen Narrativs, erklärt Chris.

Erwartungshaltung oder Selbstverantwortung?

Auf die Frage, ob ihn der Shintoismus glücklicher gemacht hat als der Katholizismus, antwortet Chris bedächtig. "An einem Schrein ist jeder willkommen. Und jeder kann seinen Dank ausdrücken oder eben nicht. Und diese Offenheit hat mich sehr davon weggebracht, darüber nachzudenken, was ich besser oder schlechter finde." Die Hinwendung zum Shintoismus stieß unter Freunden und Familie nicht nur auf Neugier, sondern vor allem auf eines: Verwirrung. "Es ist halt weit weg", beschreibt Chris die Reaktionen. Ihn zu erklären sei schwer: "Man ist das so gewohnt, es wird einem gepredigt, man hat Dogmen, man muss sich an gewisse Dinge halten und sich unterordnen – und dann ist da plötzlich so viel Freiheit."

Diese Freiheit führt im Umfeld nicht zu Ablehnung, aber zu Unsicherheit: "Woran glaubst du denn dann überhaupt? Wer gibt denn da die Regeln vor – und warum?" Aber weder werden im Shintoismus Regeln vorgegeben, noch gebe es eine große Erwartungshaltung an die Gottheiten, erklärt Chris, denn die Natur sei eben, wie sie ist. Diese milde Haltung erklärt sich auch dadurch, dass der Shintoismus in westlichen Kulturen kaum präsent ist – und damit auch keine fest verankerten Vorurteile existieren. Während andere Religionen, etwa der Islam, mit klaren Bildern oder auch Stigmata verbunden sind, bleibt der Shintoismus oft unter dem Radar. "Da ist einfach auch wieder das Glück, dass es so dezent ist", sagt Chris. Seine religiöse Praxis und die der meisten Gläubigen besteht nur aus einem kurzen Gebet am Morgen und am Abend. "Die meisten vergessen eigentlich schnell, dass ich das überhaupt praktiziere."

Und wo lebt man diesen Glauben im Alltag außerhalb Japans? Ganz pragmatisch: Mit einem kleinen Hausschrein. Große Shinto-Gemeinden gibt es in Deutschland nicht, auch keine großen Schreine. Das Gebet ist einfach: Vor dem Schrein verbeugen, in die Hände klatschen, ein stilles Gebet sprechen, erneut verbeugen. Es gehe nicht um Bitten, nicht um Belohnung – sondern um Demut und Dankbarkeit. Chris sagt: "Einfach für das dankbar zu sein, was man hat, macht sehr viel glücklicher, als immer wieder, um das zu bitten, was man sich wünscht." Diese Haltung, glaubt er, ist einer der Gründe, warum der Shintoismus in Japan bis heute so lebendig ist.

Der Glaube ist kulturell verankert, ohne dabei in Gemeinden oder durch eine übergeordnete Institution organisiert zu sein. Auch regelmäßige Predigten oder gemeinsame Gebete gibt es nur zu wichtigen Feierlichkeiten, wie zum Beispiel zum japanischen Neujahr. Hier beten Gläubige an den größten Schreinen des Landes und erstehen Talismane, die beschützen oder Glück bringen sollen. Für Chris ist dabei nicht die Anbetung einer konkreten Gottheit zentral, sondern das Gefühl der Verbindung zur Natur. "Es ist schwer, zur Natur selbst zu sprechen – aber ich nehme mir einfach diesen Moment, um Dankbarkeit zu äußern." Ob die Natur antwortet, ist für ihn dabei zweitrangig. Wichtig sei das bewusste Innehalten. Eine Praxis, die an das Gebet in anderen Religionen erinnert: "Auch Christen wissen vielleicht nicht, ob Gott sie erhört – aber das Tun an sich ist bedeutsam."