Mediensucht nimmt deutlich zu

Mann schaut auf Handy
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Zunehmend mehr Menschen schaffen es kaum 20 Minuten lang, das Handy aus der Hand zu legen.
Verloren in virtuellen Welten
Mediensucht nimmt deutlich zu
Gamen, Pornos, Social Media: Beratungsstellen unterstützen eine wachsende Zahl von Menschen mit einem problematischen Medienkonsum. Therapieplätze sind rar.

Zunehmend mehr Menschen verlieren sich in virtuellen Welten. Sie kommen nicht mehr vom Gamen los, schaffen es kaum 20 Minuten lang, das Handy aus der Hand zu legen, oder müssen in jeder freien Minute Pornos gucken. "Die Nachfrage nach Beratung steigt stark an", sagt Niels Pruin, Leiter des Fachgebiets Medien- und Internetsucht des Caritasverbands der Diözese Augsburg. Das sieht er zum Beispiel an der Donauwörther Caritas-Einrichtung "Café Connection" für junge Suchtgefährdete. Jeder zweite Klient kommt inzwischen wegen eines Problems beim Umgang mit Medien.

Die einen sind selbst betroffen, die anderen haben ein Familienmitglied, das exzessiv konsumiert. Allerdings sitzen die wenigsten Betroffenen vor dem Berater und erklären: "Ich bin internetsüchtig." Die Klienten, berichtet Pruin, hätten eher ein diffuses Gefühl, nicht mehr auf dem richtigen Weg zu sein: "Sie äußern, dass sie traurig, einsam oder depressiv sind." Dabei ahnen sie, dass das mit ihrem Medienkonsum zu tun haben könnte.

In nahezu allen Fällen sieht der Fachgebietsleiter neben der Medienkonsumstörung weitere psychische Auffälligkeiten, etwa ADHS oder Autismus. Der Therapeut hatte es schon mit extremen Fällen zu tun: "Junge Leute wurden aus völlig vermüllten Wohnungen zu ihren Eltern geholt, sie waren ungepflegt, hatten sich tagelang nicht mehr gewaschen."

Internetsucht spitzt sich seit Corona-Krise zu

Internetsucht ist ein wachsendes Problem seit mindestens zehn Jahren. Die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen schlug auf Basis einer Studie bereits im Juni 2015 Alarm. Rund 300.000 Kinder und Jugendliche, hieß es damals, nutzten das Internet exzessiv. Valide aktuelle Zahlen zu erhalten, ist schwierig. Das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit verweist auf Anfrage auf Ergebnisse der Drogenaffinitätsstudie 2023 zur Computerspiel- und Internetnutzung der 12- bis 25-Jährigen. "Für den Zeitraum von 2011 bis 2023 finden sich Hinweise auf ein häufigeres Auftreten von Problemen aufgrund der Internetnutzung", heißt es darin.

Einer Studie der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen vom Juni 2015 zufolge, nutzten rund 300.000 Kinder und Jugendliche das Internet exzessiv.

Seit der Corona-Krise spitzt sich die Lage zu. "Viele unserer Klienten sagen, dass es da bei ihnen richtig massiv geworden ist", sagt Pruin. Verschärft wird die Problematik durch Künstliche Intelligenz (KI). Denn dadurch lassen sich individuell auf das Spielerverhalten zugeschnittene Spielwelten erstellen, was Gamen noch attraktiver macht. Eine besonders rasante Zunahme verzeichnet Pruin beim Pornografiekonsum. Durch KI-Generatoren lassen sich inzwischen Bilder für noch so bizarre sexuelle Obsessionen erstellen.

Suchttherapeut wird "förmlich überrannt"

Der Suchtherapeut leitet eine bundesweite Online-Selbsthilfegruppen für Pornosüchtige: "Seit einigen Jahren werde ich förmlich überrannt." Aktuell erhält er im Durchschnitt zwei Anfragen pro Werktag. Auch Benjamin Grünbichler, Leiter von "neon - Prävention und Suchthilfe Rosenheim", beobachtet durch Schulbesuche und Workshops, dass Mediensucht zunimmt. Junge Menschen, appelliert er, bräuchten angesichts immer faszinierenderer Möglichkeiten im Cyberspace einen besonderen Schutz.

Unter 14 Jahren sollten sie nach seiner Überzeugung kein eigenes digitales Endgerät besitzen. Vor diesem Hintergrund unterstützt er die Elternbewegung "smarter start ab 14" für eine smartphonefreie Kindheit. Die Petition der Initiative wurde von bisher 50.000 Bürgern unterzeichnet. Suchtherapeuten sind weit davon entfernt, Medien an sich zu verteufeln. Es spreche nichts dagegen, sagt Grünbichler, mal für ein paar Stunden in andere Welten abzutauchen.

Darum gingen Menschen ja auch ins Kino: "Allerdings ist der Film nach zwei Stunden vorbei." Videospiele endeten heute nicht mehr: "Sie sind so aufgebaut, dass man sich aktiv rausbegeben muss." Wegen der immer stärkeren Sogwirkung falle dies zunehmend schwerer. In Hamburg hat es Klaus Wölfling mit Menschen zu tun, die eine Form von Internetsucht entwickelt haben: "Wir können klar sagen, das nimmt zu." 120 stationäre Plätze für Suchtkranke stehen in der von ihm geleiteten Rehaklinik der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld zur Verfügung.

Noch bis vor ein paar Jahren gab es dort keine Medienabhängigen. Inzwischen sind bis zu 20 Prozent der Therapieplätze von Menschen besetzt, die exzessiv gamen oder online wetten. Der Spielsuchtforscher wünscht sich mehr Therapieplätze für Menschen mit Medienabhängigkeit. Bis zu fünf Prozent der Bevölkerung, schätzt er, sei inzwischen betroffen. Vor allem vulnerable Menschen liefen Gefahr, sich in virtuellen Welten zu verlieren. Durch die gesellschaftlichen Krisen wiederum wächst die Vulnerabilität.